Vorab: Ich mag DeChambeau. Er bestätigt, was ich seit Jahrzehnten denke: Länge ist für den Score wichtiger als Präzision, lange Schläge sind für den Score wichtiger als kurze Schläge, der Schlüssel zu mehr Länge sind schnellere Muskeln und größere Muskeln werden immer auch schneller. Trotzdem fiel mir in seinem Interview nach dem Sieg etwas auf, was mich beschäftigt hat.
Bei diesen Pressekonferenzen antworten die Spieler auf die Frage nach ihren Zielen meist gleich: »Ich will jeden Tag besser werden.« Tiger hat das auch gebetsmühlenartig wiederholt. Diese Philosophie scheint keiner der Golf-Psychologen und Mental-Experten infrage zu stellen. Also wird das wahrscheinlich auch dem Nachwuchs als Vorbild präsentiert. Sie sollen zumindest ihr »Bestes« geben. Ich sehe da eine Gefahr:
»Besser zu werden« ist nicht gleichbedeutend mit, »glücklich zu werden«
»Besser« ist die Steigerung von »gut« und »gut« ist die eine Seite der Medaille »gut/böse« oder hier »gut/schlecht«. Darin sehe ich jedoch eine gefährliche Dichotomie. Diese Dichotomie unterstellt einen Universalismus, den ich in der Realität nicht erkennen kann. Ich glaube nicht an universelle oder objektive Werte. Für mich ist etwas wertvoll, wenn es mein Wohlbefinden steigert. Was mein Wohlbefinden steigert, ist jedoch etwas anderes als das, was das Wohlbefinden eines anderen steigert. »Gut« und »besser« implizieren also oft einen Allgemeingültigkeitsanspruch, der — so befürchte ich — nur wenige glücklich machen wird. Wenn ich »besser« sein will als andere, bleibe ich immer davon abhängig, wie andere abschneiden. Zugegeben, jetzt warnen viele Psychologen davor, sich nicht mit anderen zu vergleichen. Sie empfehlen dann, sich mit sich selbst zu vergleichen: »Werde besser als du es gestern warst!« oder »frage dich zumindest: ›Hast du dein „Bestes“ gegeben?‹« Ich habe das auch lange geglaubt und gelehrt.
Diese Philosophie unterstellt, man werde am glücklichsten, wenn man sich ein Ziel setzt und auf dem Weg zu diesem Ziel 100 Prozent gibt, also alles, was man hat. Manche fordern sogar, 110 Prozent zu geben. Wobei die vielleicht in Mathe nicht aufgepasst haben. Sogar »1000 Prozent« habe ich schon gehört. Aber wird man so am glücklichsten? Es heißt, dass selbst wenn man sein Ziel nicht erreicht, stelle sich zumindest Seelenfrieden ein, in dem Wissen, alles gegeben zu haben. Aber was, wenn sich meine Ziele ändern? Soll ich diese Gedanken und die zugehörigen Gefühle dann beiseite schieben? Soll ich auch »das Beste« auf einem Gebiet geben, selbst wenn das bedeutet, auf vielen anderen Gebieten Kompromisse zu machen? Man präsentiert uns ständig Geschichten von solchen Leuten, die alles einem Ziel untergeordnet und jahrzehntelang Entbehrungen in Kauf genommen haben, um ihr Ziel zu erreichen. Aber was ist mit denen, die das auch getan und ihr Ziel nicht erreicht haben? Von denen spricht keiner. Und wer sagt, dass die, die ihr Ziel erreicht haben, glücklich wurden? Mir erscheinen einige Stars und »Erfolgreiche« eher unglücklich.
Manchmal sind Rückschritte notwendig
Aber was ist die Alternative? Ist das hier eine Einladung, auf der Couch sitzen zu bleiben? Das kommt darauf an. Ich predige keine Gegenwartsorientierung, sondern meine Erfahrungen wurden umso erfreulicher, je bewusster und selbstempathischer ich wurde. Ich bleibe so lange auf der Couch sitzen oder im Bett liegen, wie kein Unwohlsein aufkommt. Das ist aber nicht nur der Fall, wenn »Erholung« im Trainingsplan steht. Bei mir kommt auf der Couch oder im Bett manchmal auch kein Unwohlsein auf, obwohl ich erholt bin. Und dann bleibe ich sitzen oder liegen, bis mich der Hafer sticht. Jetzt spüre ich offensichtlich ein Unwohlsein, das der Beseitigung harrt.
Ich glaube nicht mehr an Erfolgsrezepte wie: »Versuche jeden Tag ›besser‹ zu werden als am Tag zuvor!« Wie würde ich das messen? Manchmal sind doch außerdem Rückschritte notwendig. Ich kann mich auch unmöglich jeden Tag wohler fühlen als am Tag davor. Wie können permanente Leistungssteigerungen im Alter funktionieren, wenn Körper und mein Geist naturgemäß abbauen? Wobei ich auch nicht aufs Alter warten brauche, um mit dieser Philosophie gegen die Wand zu laufen. Die hedonistische Adaption macht da schon bei denen einen Strich durch die Rechnung, die in der Blüte ihres Lebens stehen. Die hedonistische Adaption ist der Sisyphos-Stein derjenigen, die von Glücks-Psychologen motiviert wurden. Egal, wie »erfolgreich« sie sind, die Anpassung an das neue Niveau kommt blitzschnell und das das Glücksempfinden verschwindet. Neues Glück ist nur mit einem weiteren Erheben über das neue Ausgangsniveau zu erreichen.
Gibt es ein Rezept für Erfolg?
Aber ist das empathische Erspüren meines Unwohlseins nicht auch ein Erfolgsrezept? Nein, denn es ist kein menschengemachtes Rezept, das die immer gleichen Zutaten und Zubereitungsanweisungen als grundsätzlich und für jeden schmackhaft verkauft. Seit es den Menschen gibt, wirkt dieser Mechanismus: Ich fühle mich unwohl und bemühe mich, das zu bekommen, was mir fehlt. Ich habe Durst, ich trinke; ich habe Hunger, ich esse; ich bin erschöpft, ich raste; ich bin müde, ich schlafe; ich friere, ich wärme mich auf; ich bin einsam, ich suche Gesellschaft; ich bin neugierig, ich versuche etwas dazuzulernen. Selbstempathie ist das Wahrnehmen meines Fühlens und Wollens. Was ich fühle und was ich brauche, ist hochgradig individuell. Warum braucht es überhaupt Zeilen, um daran zu erinnern? Weil es Dogmen gibt, die diese natürlichen Zusammenhänge und Mechanismen zu überschreiben versuchen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich mit der Hilfe von Marshall Rosenberg und Ben Daniel gelernt habe, einige Dogmen zu hinterfragen und wieder sensibler auf das zu hören, was in meinem Gehirn angelegt wurde. Ich bin damit glücklicher geworden als mit allen anderen Glücksrezepten. Ich will hiermit weder andere missionieren noch selbst einen Allgemeingültigkeitsanspruch erheben, sondern vielleicht andere inspirieren und dazu einladen, mögliche Widersprüche bei mir aufzudecken.
(Autor: Oliver Heuler)
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