Irre, welche Spekulationen da vor dem Masters ins Kraut schießen: „Kann ein LIV-Golfer in diesem Jahr gewinnen?“, fragt beispielsweise Mark Schlabach von „ESPN“. Das ist natürlich provokant gemeint, und Aufmerksamkeit heischend formuliert. Und eigentlich hat der Kollege nur wiedergegeben, womit Brooks Koepka und Bryson DeChambeau vom LIV-Moderator beim Event in Miami konfrontiert worden waren, der Generalprobe des Konkurrenzcircuits vor dem ersten Major eines Jahres. Die Antwort in Kürze: Es seien ja bloß maximal 15 bis 20 Prozent des ohnehin kleinen, nur 88 Starter umfassenden Felds zu schlagen.
„Allen Zweiflern die Augen geöffnet“
Sowieso, warum sollte ein LIV-Golfer nicht im Augusta National Golf Club triumphieren können. Koepka war vergangenes Jahr nahe dran und hat später bei der PGA Championship bewiesen, dass er nach wie vor ein Major-Monster ist. Phil Mickelson leistete ihm auf Platz T2 Gesellschaft. Patrick Reed wurde geteilter Vierter. Damals wie heute gilt das Wort von Cameron Smith: „Außenstehende haben garantiert gedacht, dass diese Jungs von Top-Golf weit entfernt sind. Aber unsere Leistung beim Masters dürfte allen Zweiflern die Augen geöffnet haben.“
Abfällige Bemerkungen von Nick Faldo
Heuer, bei der 88. Auflage der Gala ums Green Jacket, steht naturgemäß neben dem „üblichen Verdächtigen“ Tiger Woods vor allem Jon Rahm im Mittelpunkt – nicht nur, weil der Spanier Titelverteidiger ist, sondern als LIVs größter Star gleichermaßen „Leader of the Gang“ für die 13-köpfige Abordnung. Als ob es bei „Rahmbo“ besondere Motivation bräuchte, dürfte eine Bemerkung des gern abfällig daherredenden Nick Faldo den 28-Jährigen beim ersten Start im Kreis der einstigen Kollegen nach dem Abgang zur Saudi-Sause erst recht anstacheln.
„Bloß in kurzen Hosen auf Resortkursen unterwegs“
„In den vergangenen Monate war er [Rahm] bloß in kurzen Hosen auf Resortkursen unterwegs. Das taugt wenig als echter Test“, stichelte der englische Sir, der das Masters drei Mal gewonnen hat und mit Jack Nicklaus sowie Tiger Woods zum Dreierbund jener zählt, die ihr Green Jacket im Folgejahr zu verteidigen vermochte, und sich wünscht, „dass es ein Dreier-Club bleibt, wenngleich ich Jon natürlich alles Gute wünsche“.
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Eine nette Statistik am Rande: Rahm hat mit 70,5 Schläge den besten Durchschnittsscore aller Spieler, die mindestens 15 Runden im Augusta National Golf Club bestritten haben – mehr als 400 an der Zahl.
Zünglein an der Wiedervereinigungs-Waage?
Beim Millionenmann selbst stößt man immer wieder auf scheinbar widersprüchliche Aussagen. Einerseits vermisst Rahm die Chance, bei den Klassikern der PGA Tour antreten zu können, und äußert diese Wehmut immer wieder; andererseits betrachtet er seinen Wechsel als eine Art Wendepunkt im Tauziehen der Touren, als Kipppunkt der Kontroverse zwischen PGA Tour und LIV Golf League. „Das Gleichgewicht des Golfsports ist dadurch vielleicht ein wenig gestört worden“, sagt Rahm mit sattem Selbstbewusstsein: „Glücklicherweise habe ich in meiner Karriere bereits viel erreicht und mir einen Namen gemacht. Es gibt nur wenige aktive Spieler, die in dieser Hinsicht einen größeren Einfluss hätten haben können als ich.“ Und: „Ich will mir nicht zu sehr auf die Schulter klopfen, aber ich wusste, welche Auswirkungen meine Entscheidung haben würde.“
Welche Auswirkungen hat Rahms Wechsel wirklich?
Es sei gestattet, mit ein wenig Ironie nachzuhaken: aha? Ist das wirklich so? Welche Auswirkungen denn? Ein bisschen klingt das nach Selbstüberschätzung. Rahm ist ein exzellenter Golfer und nicht von ungefähr immer noch Nummer drei der Welt – ein Meinungsmacher, dessen Haltung zum Kompass wird; ein Meinungsmacher wie Woods oder selbst McIlroy ist er indes sicherlich nicht.
Angesichts der derzeit eher eingefrorenen Gespräche zwischen saudischem Staatsfond PIF und PGA Tour – trotz des Meetings zwischen Yasir Al-Rumayyan und Tiger Woods auf den Bahamas – scheint es keiner der Beteiligten sonderlich eilig zu haben. Trotz des Verlusts von Rahm. Zumal die Tour sich dank des Techtelmechtels mit der Strategic Sports Group längst anderweitig orientiert hat.
Fans sind des misslichen Streits müde
Allenfalls die sinkenden TV-Zahlen – die Rede ist von einem 20-prozentigen Rückgang – und das erlahmende Interesse des zahlenden Publikums an einer gespleißten Beletage des Golfsports, in der die Besten der Besten sich allenfalls vier Mal im Jahr miteinander messen, könnte den Verhandlungen neuen Schwung in Sinn und zugunsten des Spiels verleihen. Hüben wie drüben ist man sich wenigstens darin einig, dass die Fans des misslichen Streits um die Deutungshoheit im Profigolf der Herren ziemlich müde geworden sind.
Rory McIlroy („Das ist wenig nachhaltig für Golf“) wäre hier ebenso zu zitieren wie DeChambeau oder Mickelson. „Die Fans sind der Motor dieses Sports“, betonte BDC beim LIV-Event in Doral. „Keine Fans, kein Golf. Wir machen das hier, um uns selbst zu entertainen. Es muss einen Weg geben, um wieder zusammenzukommen.“
Plädoyer für LIV-Events über 72 Löcher
Auch Jon Rahm sei zugutegehalten, dass er zum Wohle des Sports und nicht zu eigenen Gunsten argumentiert, wenn er „asap“ die Wiedervereinigung fordert, nachdem er sich zuvor noch flugs mit einem ordentlichen Batzen PIF-Penunsen die Taschen gefüllt hat. Oder wenn er hilfsweise für eine Hinwendung des LIV-Modus zu einem traditionelleren Format plädiert, mit dem die Fans weniger fremdeln und das Establishment, sprich die Weltranglisten, weniger Probleme hätten. „Die LIV-Turniere auf 72 Löcher zu erweitern, würde sehr helfen“, sagte Rahm im Gespräch mit der „BBC“: „Je näher wir LIV Golf ans bestehende System heranführen können, desto besser. Letztlich würde so eine Art Vereinheitlichung dann tatsächlich in eine Welttournee münden. Ich jedenfalls hätte nichts dagegen, zu 72 Löchern zurückzukehren.“
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Joaquin Niemann: Favorit unter dem Radar
Indes, man kann seine Aussagen auch ganz anders interpretieren. Und damit zurück zur einleitenden Fragestellung. „Es gibt eine ganze Reihe von Major-Champions bei uns,“erinnert Jon Rahm ans LIV-Line-up, „und es gibt einige, die Major-Champion-Qualität haben.“ Womit wir bei Joaquin Niemann während. Der dreifacher Saisonsieger (zwei LIV-Events sowie die Australian Open) ist mit 9,4 Millionen Dollar Saisonverdienst Spitzenreiter der LIV-Geldrangliste, war auf der DP World Tour und auf der Asian Tour bei allen 2024er-Starts in den Top-Fünf und ist dennoch lediglich die Nummer 91 der Welt.
Damit war Niemann auf eine Einladung von Augustas Granden in Grün angewiesen, um es zum Masters zu schaffen. Der 25-jährige Chilene ist entsprechend wenig gut aufs OWGR zu sprechen: „Derzeit ist das System der Weltranglistenpunkte schlichtweg eine Lüge.“ Aber wie sagte der legendäre Fußballtrainer Adi Preißler einst: „Grau is' im Leben alle Theorie – entscheidend is’ auf'm Platz.“ Und dort zählt Niemann ab morgen zu den Favoriten.