Wenn ein Arzt eher für seine Golfleidenschaft bekannt ist, denn durch sein medizinisches Wirken …: Richtig, dann klingt‘s erst Mal ziemlich nach Klischee. Begüterte Klientel mit Tagesfreizeit und so. Wenn das aber fast 140 Jahre her ist und einen Golfplatz hervorbringt, bei dem man nicht weiß, ob man zuerst seine Schönheit preisen oder seine Anspruchsfülle loben soll – dann handelt es sich um Golfgeschichte.
Zweites Home of Golf im Kopfkino
Genauer gesagt um die Geschichte von Dr. William Laidlaw Purves, Mitglied im Royal Wimbledon Golf Club, dem 1885 beim Besuch an der englischen Südostküste ein außergewöhnliches Stück Land ins Auge gestochen hatte. Purves war umgehend angefixt von dem wild bewegten Gelände an der Pegwell Bay mit den mal welligen, mal steilen Dünen und sah in seinem Kopfkino schon ein zweites St. Andrews, das Home of Golf des britischen Südens sozusagen.
Von fast unsichtbarer Naturbelassenheit
Am Ende wurde „lediglich“ Englands bester Golfplatz draus, was trotz des Superlativs einer Untertreibung gleichkommt. Denn Royal St. George‘s – benannt nach dem heiligen Drachentöter und Schutzheiligen Englands – ist ein Schmuckstück besonderer Güte: Dem Doktor ist ein nahezu perfekter Parcours gelungen. Das Arrangement fügt sich völlig selbstverständlich in die Landschaft ein, wirkt dank seiner Naturbelassenheit manchmal gleichsam unsichtbar in der Umgebung. Rispengräser und wilde Blumen schwanken im Wind, an klaren Tagen leuchten die Kreideklippen von Dover in der Ferne und über allem schwebt das liebliche Lied der Lerche. Pure Golf-Idylle.
Erste Open-Bühne außerhalb von Schottland
1887 wurde Royal St. George‘s zum Spiel freigegeben, bereits sieben Jahre später verlegten die Golf-Granden von St. Andrews ihr Prestige-Turnier nach Sandwich in die Grafschaft Kent, und J. H. Taylor, einer vom „Great Triumvirate“ mit Harry Vardon und James Braid, gewann 1894 die erste Open Championship außerhalb von Schottland. Diese Woche ist die Weltklasse-Wiese zum 15. Mal Schauplatz des Wettstreits um die Claret Jug: Royal St. George‘s ist stets einer der Höhepunkte in der Open-Rota, zählt mit Carnoustie und Muirfield zur Crème de la Crème des Kursreigens, der Mythos Old Course rangiert ohnehin außer Konkurrenz.
Komplexität dank Fläche
Die Komplexität des Platzes lebt von verfügbaren Raum, das Par-70-Layout (6.573 Meter) bewegt sich in der Fläche – selten genug für einen Links-Parcours. Und so verlaufen die Bahnen in Form einer Acht, statt des für Küstenstreifen üblichen „Out and In“; dank der beiden Schleifen weist nahezu jedes Loch in eine andere Richtung und zwingt den Spieler in ständig neue Auseinandersetzungen mit dem Wind. „Du hast vielleicht nur 50 Yards, aber je nach Anspielwinkel die Qual der Wahl zwischen sechs Schlägern“, sagt beispielsweise Brooks Koepka und fügt ironisch an: „Das wird ein Heidenspaß.“
Etliche blinde Löcher entschärft
Was sich dabei vor der jeweiligen Teebox ausbreitet, ist variantenreich und stets unverwechselbar, jedes Loch bleibt individuell in Erinnerung, die Verteilung der Par-Variationen ist wohl choreographiert, alles fügt sich zu der Großartigkeit in Summe, die nur wahrhaft einzigartigen Ensembles zu eigen ist.
Dabei trägt Royal St. Georges sämtliche Schwierigkeitsgrade in seiner DNA, es bedurfte nie einer artifiziellen Nachhilfe. Allenfalls zahlreiche blinde Schläge, die in den Anfängen des Design en vogue waren, wurden im Lauf der Jahrzehnte ausgebügelt, vor allem etliche Grüns aus dem Sichtschutz der Dünen oder aus uneinsehbaren Senken gezogen. Unter anderem übrigens von Purves‘ Medizinerkollegen und Augusta-National-Schöpfer Dr. Alister Mackenzie. Das passt ja wieder, Ärzte und Golf …
Bond-Autor Fleming verewigte Royal St. George‘s
Angesichts der Fülle von Fulminanz wird‘s schwierig, ein Signature Hole zu benennen. Die Herausforderung von Royal St. George‘s beginnt nämlich direkt nach Verlassen des Putting-Grüns. Für den Auftakt soll daher ein namhafter englischer Schriftsteller zu Wort kommen:
„Das erste Loch […] ist 450 Yards lang – 450 Yards welliges Fairway mit einem zentralen Bunker, um einen schlecht getroffenen zweiten Schlag zu bestrafen, und einer Bunkerkette, die drei Viertel des Grüns bewacht, um selbst dem guten Annäherungsschlag Probleme zu bereiten“, schrieb Sir Ian Fleming in „Goldfinger“ (erschienen 1959) über die Kulisse des legendären Golf-Duells seines Helden James „007“ Bond mit dem Schurken Auric Goldfinger. „Man kann zwar versuchen, durch das ungeschützte Viertel aufs Grün zu schlüpfen, aber das Fairway fällt dort nach rechts ab und es drohte der erste fiese Chip des Tages.“
Vorbild für fiktiven Platz in „Goldfinger“
Wie jetzt, werden Sie wahrscheinlich fragen, was hat das mit der aktuellen Open-Bühne zu tun? Ganz einfach: Wenngleich die entsprechenden Filmszenen mit Sean Connery und Gert Fröbe – wie allgemein bekannt – in Stoke Park in Buckinghamshire gedreht wurden, handelt es sich beim fiktiven Golfclub „Royal St. Marks“ in Flemings Romanvorlage tatsächlich um Royal St. Georges.
Herzschlag beim Meeting des Club-Komitees
Der flamboyante Fleming, nicht nur Autor, sondern renommierter Journalist und Zögling der Londoner Upper-Class, war Mitglied, zwischendurch ebenso Captain – und starb sogar nahe seines geliebten Geläufs, weil er während einer Sitzung des Club-Komitees am 12. August 1964 einen Herzschlag erlitt, dem er kurz darauf im Krankenhaus von Canterbury erlag.
Welcherart Flemings Aufregung war – oder nur eine finale Schwäche des gesundheitlich eh angeschlagenen Literaten –, ist nicht überliefert. Royal St. George‘s jedenfalls bietet Dramatik im Übermaß.
Großbritanniens höchster Bunker vor „Elysian Fields“
Auf Bahn vier beispielsweise befindet sich Großbritanniens höchster Bunker, eine Sandfalle, die in eine turmhohe Düne gekratzt ist und zurecht den Namen „The Himalaya“ trägt. Schlimmer noch: Das Fairway windet sich als doppeltes Dogleg erst nach rechts um dieses Monster – sein dahinter liegender Teil wird „Elysian Fields“ genannt, weil‘s diese „Insel der Seeligen“ carry zu erreichen gilt – und knickt dann zum Grün noch mal nach links ab. Das 430 Meter lange Par 4 ist nicht von ungefähr schwierigstes Loch des Layouts.
Als Thomas Bjørn den Majorsieg verspielte
Von einem anderen der insgesamt 102 Bunker kann Thomas Bjørn ein Lied singen. Beim unwahrscheinlichen Sieg der US-Eintagsfliege Ben Curtis 2003 verspielte der Däne und Ryder-Cup-Skipper von Paris 2018 eine Riesenchance auf den Major-Gewinn, als er drei Schläge benötigte, um sich und seinen Ball aus dem tiefen Sandhindernis an der rechten Seite des Grüns der Par-3-16 zu befreien, das anschließend auf seinen Namen getauft wurde. Bjørn hatte nach der 14 mit zwei Schlägen Vorsprung geführt und wurde schließlich gemeinsam mit Vijay Singh geteilter Zweiter, einen Schlag hinter Curtis.
„Manchmal fühlt man sich wie auf dem Mond“
Die erste Herausforderung von Royal St. George‘s sind freilich seine gefältelten Fairways, die uneben und verworfen, ja bucklig daliegen wie ein nachlässig hingeworfener Teppich. Ebene Lagen sind selten, irgendwie steht man immer „schief“, die Bälle verspringen des öfteren wüst – und nicht immer in günstige Lagen. „Manchmal fühlt man sich hier wie auf dem Mond, es gibt nirgendwo eine flache Stelle“, maulte Ernie Els 2003.
Überdies prunkt der Platz seit MacKenzies Überarbeitung aus dem Jahr 1924 mit Bahnenverläufen fernab der direkten Spiellinie und „aus der Flucht“ platzierten Grüns – Lieblings-Features des Schotten, die er beispielsweise bei der Konzeption von Royal Melbourne par excellence realisiert hat. Zudem werden ungenaue Drives nach wie vor mit blinden nächsten Schlägen bestraft. Man ist gut beraten, die Fairways exakt an den richtigen Stellen zu treffen, selbst wenn die in dem Ozean aus Festuca vielfach gerade mal als kleine grüne Inseln aufleuchten.
Shot Making ist also auch für diese 149. Open Championship erste Pflicht, und man darf gespannt sein wie Bryson DeChambeau beim ersten Links-Auftritt nach seiner „Hulk“-Transformation mit solchen Bedingungen klar kommt. Das Rough bestraft verirrte Drives noch ganz anders als einer US Open, aus diesem verwachsenen Gestrüpp hackt sich‘s selbst mit brutalem Gewalt kaum aufs Grün. Die Puttflächen sind überdies so bewegt wie das gesamte Gelände, unsauber platzierte Bälle kullern irrlichternd herum und enden gern jenseits von Gut und Böse.
Lobgesang vom Design-Genie
Das Ganze mündet schließlich in ein Schlussloch, dessen Fairway durch ein Längsgrat in der Mitte verengt ist und dessen Grünkomplex zu den schwierigsten der Open-Rota zählt. Es ist der würdige Finalakkord eines Meisterwerks, das in besten Linkskurs-Tradition von Mutter Natur an die Kanalküste gegossen wurde und von Menschenhand bloß etwas beigeschliffen werden musste.
„Sandwich hat die entscheidenden vier Tugenden eines herausragenden Golfplatzes, und diese im Überfluss“, notierte Design-Genius Tom Doak in seinem von Kurs-Connaisseurs fast bibelartig verehrten „Confidential Guide to Golf Courses“: „Herausfordernde Löcher, glänzend angelegte Grüns und Bunker, einen ureigenen Charakter und eine hinreißende Kulisse.“ Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.