Michael J. Arlen ist ein Kollege beim renommierten amerikanischen Nachrichten-, Kultur- und Literaturmagazin „The New Yorker“. Von 1957 bis 1990 schrieb er dort hauptsächlich Kritiken und Essays und nebenbei mehrere Bücher. Doch dieser Tage erschien eine wunderbare Story des inzwischen 93-jährigen Engländers, die perfekt in die Woche des Damenturniers von Paris 2024 passt. Unter dem Titel: „My Great-Grandmother, Olympic Golfer“ erzählt Arlen die Geschichte von Abbie Pratt, die ein bewegtes, ja buntes Leben geführt und bei den ersten Spielen von Paris von 124 Jahren das olympische Damengolfturnier als Dritte beendet hat.
Once again the Summer Olympics are upon us. Michael J. Arlen writes about his great-grandmother, who not only competed in the first Paris Olympics, in 1900, but actually won, or rather placed third, in the new category of women’s golf. https://t.co/A4Mw34cGiD
— The New Yorker (@NewYorker) July 26, 2024
„Bronze“ für eine spätere Prinzessin
Der Autor erinnert sich an eine „prächtige Dame: kämpferisch, humorvoll, liebevoll und klein. Kaum mehr als 1,50 Meter und damit nur ein paar Zentimeter größer als ich Achtjähriger bei unserer letzten Begegnung 1938 in ihrer schönen Villa Fiorentina in den Hügeln über Cannes, kurz vor ihrem Tod.“ Ein paar Zeilen weiter heißt es: „Sie hatte die strahlendsten blauen Augen, die ich jemals gesehen habe, und die ich in meinem Gedächtnis immer noch sehen kann.“
Arlens Urgroßmutter muss eine interessante und kapriziöse Lady gewesen sein. Damals führte die 78-Jährige den Titel Prinzessin Daria Karageorgevitch, dank der letzten ihrer vielfachen Ehen mit Prinz Alexis Karageorgevitch, einem Anwärter auf den Thron von Serbien. Hypergam heißt das, wenn sich jemand mehrfach und stets vorteilhaft verheiratet.
Das Golfspiel in Frankreich für sich entdeckt
Die spätere Königliche Hoheit kam 1859 als Reeders-Tochter Myra Abigail Pankhurst in Cleveland/Ohio zur Welt, ehelichte mit 18 einen Ölspekulanten namens Herbert Wright, der einige Jahre später von einer Rohstoff-Expedition in die Berge von Montana nicht mehr zurückkehrte. Die trauernde Witwe zog nach New York, heiratete dort den vermögenden Finanzier Thomas Huger Pratt und überredete ihn zum Umzug ins französische Dinard, ein paar Wegstunden westlich von Paris. Dort entdeckte die nunmehrige Abbie Pratt das Golfspiel für sich und schloss sich ebenso wie ihr Mann dem Dinard Golf Club an.
Pflichtbesuch der Weltausstellung
Wer in jener Zeit in Frankreich was auf sich hielt, der besuchte nahezu selbstverständlich auch die Weltausstellung des Jahres 1900 in Paris. Und als im knapp 50 Kilometer von der französischen Metropole entfernten Städtchen Compiègne für Anfang Oktober ein Golfturnier ausgeschrieben wurde, ließen sich die golfenden Pratts das natürlich nicht entgehen. Während Gatte Thomas aufgrund seines Alters und gewisser körperlicher Einschränkungen am sogenannten Handicap Event teilnahm, ging Abbie beim „Prix de la ville de Compiègne“ an den Start.
Neun Loch zwischen 59 und 193 Meter Länge
Das Turnier auf dem 1896 eröffneten Neun-Loch-Platz der Société du Sport Compiègne im Innenraum der örtlichen Pferderennbahn, sozusagen der Vorgänger des Albatros-Kurses von Le Golf National, führte lediglich über eine Runde; von den Damenabschlägen waren Distanzen zwischen 59 und 193 Metern zu absolvieren. Pratt benötigte 53 Schläge, belegte den dritten Platz hinter ihren Landsfrauen Margaret Ives Abbott (47 Schläge) und Pauline Whittier (49), die im Schweizer Nobelskiort St. Moritz studierte, und bekam dafür ein Blumenbouquet. Was für ein nettes Intermezzo in all dem Weltausstellungstrubel.
Erste Frau mit Golfgold und erste US-Olympiasiegerin
Dass es sich bei besagtem „Prix de la ville de Compiègne“ um das erste olympische Damen-Golfturnier gehandelt hatte, erfuhr Pratt erst viel später. Die 1955 im Alter von 76 Jahren verstorbene Siegerin wiederum hatte zeitlebens keine Ahnung, dass sie nicht nur als erste Frau mit Golfgold in die Geschichte des Spiels eingehen sollte – wenngleich in symbolischem Sinn, denn als Hauptpreis gab es damals einen Flakon mit französischem Parfüm und eine Schüssel aus Meißener Porzellan mit Goldziselierung: Margaret Ives Abbott war überhaupt die erste US-Olympiasiegerin der Neuzeit.
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Fünf Wettbewerbe für Frauen gegen Widerstand des IOC
Die jeweils fünf Teilnehmerinnen aus den USA und aus Frankreich spielten in Compiègne (siehe Foto unten) nicht nur um Parfüm, Porzellan und Petunien, sondern auch gegen die Frauenfeindlichkeit im Sport. Pierre de Coubertin wollte mit der Wiederbelebung der eigentlich antiken olympischen Idee zwar die Jugend der Welt in friedlichem Wettstreit vereinen und dergestalt zur Völkerverständigung beitragen, aber mit der Emanzipation hatte es der französische Baron nicht so.
Die örtlichen Organisatoren mussten ihm förmlich fünf Wettbewerbe für Frauen aus den Rippen leiern: Tennis, Segeln, Reiten, Rudern und eben Golf. Von den insgesamt 997 Athleten bei diesen zweiten Spielen der Neuzeit waren gerade mal 22 weiblich.
Einsame olympische Golfgröße bis 2016
Schon den Herren war bei deren Turnier am Vortag nicht klar, dass sie Olympioniken waren; der Wettbewerb wurde selbst von den Golf-affinen anglophilen Medien allenfalls als „Exposition Competition“ oder als „Paris World's Fair Competition“ eingestuft. Die Damen hatten definitiv keinen Dunst. Erst 1912 erklärte das von De Coubertin dominierte Internationale Olympische Komitee (IOC) – schon damals offenkundig ein fragwürdiger Laden – die beiden Golfveranstaltungen nachträglich und offiziell zum Bestandteil des offiziellen Olympiaprogramms.
Weil 1904 nur noch die Herren spielen durften, blieb Margaret Ives Abbott eine einsame olympische Golfgröße, bis Inbee Park 2016 in Rio de Janeiro das Comeback des Spiels im Zeichen der fünf Ringe gewann, gefolgt von Amerikas Superstar Nelly Korda und deren Triumph in Tokio vor drei Jahren.
Golfschülerin von Charles Blair Macdonald
Abbott hatte aus der Zeitung von der Konkurrenz in Compiègne erfahren, als sie mit ihrer Mutter Mary Abbott, Literaturredakteurin des „Chicago Herald“, auf einer Kultur-Studienreise in Frankreich weilte. Während Abbott Senior an einem Reiseführer arbeitete, besuchte ihre Tochter Kunstvorlesungen und saß im Hörsaal vor Größen wie Auguste Rodin und Edgar Degas. Bei aller Passion: Das Turnier war eine willkommene Abwechslung zum Kunstbetrieb von Paris.
Die 1878 in Kalkutta/Indien geborene Amateurin war Mitglied im Chicago Golf Club und dort Schülerin von Top-Amateur Charles Blair Macdonald, später Gründer des amerikanischen Golfverbands USGA und ein Golfplatzdesigner von höchsten Graden. Abbott bestritt mit ihm sogar ein Mixed-Turnier und gewann selbst etliche lokale Events, spielte aufgrund einer chronischen Knieverletzung aus Kindertagen aber nur spärlich Golf.
Zweier-Handicap und mit der Mama im Turnier
Sie soll ein Zweier-Handicap gehabt haben und wäre damit fraglos zur Favoritin für den „Prix de la ville de Compiègne“ erklärt worden – wenn sich bloß irgendwer im Vorfeld für das Turnier interessiert hätte. Ihre Mutter war übrigens ebenfalls mit von der Partie – eine bislang einmalige Konstellation bei Olympia – und teilte sich bei 65 Schlägen den siebten Platz mit der französischen Freifrau Lucile de Fain.
Philipp Dunne, eines von vier Kindern aus Margaret Abbotts Ehe mit dem Schriftsteller Finley Peter Dunne, berichtete Jahre später, seine Mutter habe ihren Erfolg mal mit dem Umstand begründet, „dass die französischen Mädchen offenbar den Charakter des Events missverstanden haben und in Stöckelschuhen und engen Röcken am Abschlag erschienen sind“.
„Golfmeisterschaft von Paris gewonnen“
Der 1992 verstorbene Dunne, ein renommierter Drehbuchautor und Regisseur, war Mitte der 1980er-Jahre von Uni-Professorin und IOC-Vorstandsmitglied Paula Welch über die besondere Bedeutung von Abbotts Auftritt in Compiègne informiert worden. „Es kommt nicht jeden Tag vor, dass man erst 80 Jahre später erfährt, dass die eigene Mutter eine Olympiasiegerin war“, schrieb er 1984 in einem Beitrag für „Golf Digest“. „Sie hat uns immer nur erzählt, dass sie die Golfmeisterschaft von Paris gewonnen hatte.“
Sporthistorikerin Welch war 1973 über eine Notiz in den IOC-Annalen gestolpert und verbrachte ein Jahrzehnt mit Recherchen über die weitgehend unbekannte Vorgängerin von Inbee Park und Nelly Korda: „Sie kam aus Frankreich zurück, hat geheiratet, bekam Kinder, kümmerte sich um ihre Familie, spielte noch ein bisschen Golf, ohne wirklich an Turnieren teilzunehmen“, fasste die Wissenschaftlerin mal ihre Erkenntnisse zusammen.
Würdigung im Programmheft von Atlanta 1996
Und so verlor sich die Spur der ersten Golf-Olympiasiegerin im Dunst der Sportgeschichte. „Damals gab es halt keine Berichterstattung und Medienpräsenz, wie wir sie heute kennen“, verdeutlichte Welch seinerzeit, die Margaret Abbott dann im Programmheft der Olympischen Spiele von Atlanta 1996 porträtiert und gewürdigt hat. Man muss nicht explizit erläutern, dass diesmal garantiert keine der Golferinnen von Paris dem medialen Radar entkommen wird.
Übrigens: Auch Abbie Pratt aka Prinzessin Daria Karageorgevitch, die Bronze-Gewinnerin, hat weitere Spuren im olympischen Universum hinterlassen. Allerdings eher indirekt. Ihre Tochter Harriet aus der Verbindung mit Herbert Wright, die Großmutter von „New Yorker“-Autor Michael J. Arlen, war in erster Ehe Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Grafen Alexander Mercati verheiratet, einem Kinderfreund des griechischen Königs Konstantin I., später Großhofmarschall des Monarchen und Mitglied des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) von Griechenland. So schließen sich Kreise.