Still ruht (wieder) der See, über dem Lake Michigan hat sich der Pulverdampf des 43. Ryder Cup verzogen, und dann werden gemeinhin die Verlust gezählt. Zuvorderst auf Seiten derer, die die Schlacht verloren haben. Das klingt martialisch, ist aber wahr. Erst recht, wenn man so vernichtend abgefertigt wird wie Europas Aufgebot bei diesem Waterloo in Wisconsin.
Heimmannschaft ohnehin zumeist im Vorteil
Gut, bis auf Medinah 2012 gingen die jüngsten acht Auflagen des Kontinentalwettbewerbs stets an die Heimmannschaft, so gesehen passt die Niederlage statistisch ins Bild. Die Umstände und die Höhe indes nicht. Eine Klatsche mit mehr als neun Punkten Differenz gab’s zuletzt 1967 in Houston, als die Amerikaner mit 23,5:8,5 gewannen. Damals wurden allerdings nebst den Vierern am Sonntag auch noch zwei Mal acht Einzel gespielt. Gut, dass der Equipe von Padraig Harrington das erspart blieb, es hätte womöglich einen neuen gesamthistorischen Negativrekord gegeben. Schlimm genug, dass nie ein Team deutlicher gedemütigt wurde, seit im Kontinentalwettbewerb 28 Punkte vergeben werden.
Harringtons Fehler in Whistling Straits
So, genug der Vorrede: Und wer hat nun die Schuld? Harrington hat die Frage eigentlich schon im Vorfeld beantwortet, als er davon sprach, dass der Ausgang des Ryder Cup den Wert seiner Golfkarriere bestimmen werde: „Verliert das Team, dann ist der Kapitän gescheitert – egal wie gut er gearbeitet hat.“ Hat der Ire wirklich gut gearbeitet? Natürlich finden sich Antworten, die das in Frage stellen:
• Sicherlich hätte er das Erfolgsduo Sergio Garcia/Jon Rahm auch beim Vierball am Freitag Nachmittag nicht auseinanderreißen dürfen.
• Gewiss musste Harrington Lee Westwood und Matt Fitzpatrick nicht am Samstag Morgen erneut gemeinsam in den Foursome schicken, nachdem die beiden Engländer bereits am Vortag verloren hatten.
• Und ja, Ian Poulter ist ein lausiger Foursome-Spieler und sollte trotzdem an der Seite des ohnehin derangierten Rory McIlroy ran, der erst zum Auftakteinzel gegen Xander Schauffele endlich aufwachte.
• Derweil bestritt Tommy Fleetwood keinen der beiden klassischen Vierer, obwohl ihm das Format nachweislich liegt.
• Vermutlich wäre es auch besser gewesen, den mitreißenden Shane Lowry und Tyrrell Hatton direkt zum kombinieren, statt Letzteren erstmal an der Seite des unglücklich agierenden Paul Casey verhungern zu lassen.
Rechenspiel mit Weltranglistenplätzen
Hat alles seine Berechtigung. Doch die eigentlich traurige Wahrheit dahinter ist: Europa war einfach mindestens eine Klasse schlechter. Dem muss man leider ins Auge schauen. Zwei Drittel der Gastgeber rangieren in den Top-Zwölf der Weltrangliste, zwei Drittel der europäischen Equipe jenseits von Position 20. In der Addition der Plätze kommen die USA auf 108, die „Blauen“ hingegen auf 361. Mit Collin Morikawa hatte Steve Stricker einen Debütanten im Team, der mit 24 Jahren schon mehr Majors gewonnen hat als elf der zwölf Europäer. Und und und.
Papierform mit Team-Spirit auf den Platz gebracht
Zugegeben, auf dem Papier sind die Amerikaner von jeher meist stärker, doch so krass war die Diskrepanz selten zuvor. Und diesmal spielten sie diesen Vorteil auch aus, trafen die Grüns präziser, waren treffsicherer, ja vielfach „todsicher“mit dem Putter – gegen Kontrahenten, von denen ohnehin nur die „Spanische Armada“ Rahm/Garcia und allenfalls Lowry sowie Rookie Viktor Hovland frisch und in Bestform wirkten, bereit schienen für Außergewöhnliches. Außerdem legten sie endlich jenen Team-Spirit an den Tag, der ihnen früher stets abgegangen war, während Europa mit seinem Korpsgeist manch spielerisches Defizit auszugleichen vermocht hatte.
Aktuelle Spielstärke statt Frühform sollte das Maß sein
Womit der Kern des Debakels freigelegt ist: Die fundamentalen Fehler wurden bereits gemacht, als in Whistling Straits noch nicht mal Tribünen aufgebaut waren. Im System nämlich findet sich Kapitän Harringtons entscheidender Missgriff. Der dreifache Majorsieger drehte erst die Zahl seiner Wildcards von vier auf drei zurück, vertraute von vornherein zu sehr auf den Qualifikationsprozess.
Und dann ließ er das trotz der coronabedingten Ausnahmesituation stehen und beraubte sich damit im Gegensatz zu Widerpart Steve Stricker der Möglichkeit, mit einer guten Handvoll Picks auf die aktuellen Spielstärken seiner Ryder-Cup-Kandidaten zu reagieren und Akteure außen vor lassen zu können, die immer noch von einer jahreszeitlichen Frühform profitierten.
Weltranglisten-Hinterbänkler gegen arrivierte Tour-Größen
Harrington hat mit seinen drei „Persilscheinen“ nicht unbedingt daneben gelegen – Garcia und Lowry haben gepunktet, auch „Postman“ Poulter hat zum Schluss geliefert –, doch die Gewissensfrage der Entscheidung gegen Justin Rose wäre ihm erspart geblieben.
Andererseits: Wen hätte der Ire denn sonst „picken“ können? Er hatte doch schon jeden im Aufgebot, der im Weltgolf halbwegs was hermacht. Vielleicht noch mehr auf Jugend setzen, wie die Amerikaner, bei denen der 37-jährige Dustin Johnson angesichts eines Durchschnittsalters von 29 zum „Vater der Kompanie“ avancierte? Auf die Hojgaard-Brüder oder den Schotten Robert McIntyre? Noch mehr Debütanten, während die USA mit Rookies wie Morikawa, Patrick Cantlay oder Xander Schauffele daher kam, allesamt arrivierten Tour-Größen?
Es fehlt bis auf weiteres der solide Korpus
Man weiß es erst, wenn man’s ausprobiert hat. Was bleibt ist die Feststellung, dass es Europa bei dieser 43. Auflage des Kontinentalwettbewerbs an Qualität in der Breite gefehlt hat, zumal wenn erprobte „Schlachtrösser“ neben der Spur laufen – und an Masse. Es fehlt im Kandidatenkontingent am Mittelbau. Das ist ein strukturelles Problem.
Europa hat Häuptlinge und Nachwuchskrieger, aber keine gestandenen Indianer wie früher. Hinter den Stenson, McDowell und Co., die stets einen soliden Korpus gebildet haben, wächst kaum was nach. Fleetwood, Hatton oder Matt Fitzpatrick konnten diese Lücke nicht füllen. Symptomatisch ist, dass „Fitz“ es als einziger Debütant von Hazeltine 2016 ins aktuelle Aufgebot geschafft hat.
„Auf Jahre hinaus ein beeindruckender Gegner“
Die USA hingegen haben sich dank ihres schier unerschöpflichen Reservoires aus exzellenten Tour-Spielern erfolgreich verjüngt und überdies das einstige Ego-Shooter-Problem in den Griff bekommen. Wo früher Tiger Woods und Phil Mickelson ihr eigenes Süppchen kochte und beide eher ein „Staat im Staat“ waren, halten sich Diven wie Bryson DeChambeau und Brooks Koepka heute an ihr Steve Stricker gegebene Wort und mutieren auf wundersame Weise zu Team-Playern.
Rory McIlroy hat vermutlich recht, wenn er sagt: „Mit solchen Typen im Team werden sie [die Amerikaner] fortan ein beeindruckender Gegner sein – auf Jahre hinaus.“ Die Vokabel „dominierend“ hat er vermutlich bewusst nicht gewählt.