Vor gut vier Wochen ulkte irgendwo im Internet ein Scherzbold, Tiger Woods habe allein mit dem Verzicht auf die aktive Teilnahme an seiner Hero World Challenge schon wieder das Player Impact Programm (PIP) gewonnen. Bevor die neue Spielzeit überhaupt richtig Fahrt aufgenommen hat. Zum dritten Mal hintereinander dann. Da ist was dran. Woods’ Absage des Starts bei dem Turnier, dessen Gastgeber er ist, brachte das Netz in Wallung. Der 15-fache Majorsieger war herbei gesehnt worden: Seit dem Abgang bei der 150. Open Championship, als er auf dem von ihm so verehrten Old Course den Cut verpasste, nach seiner neunten regulären Runde des gesamten Jahres.
Wer soll ihn in Sachen Popularität schlagen?
Vier Umläufe beim Masters, drei bei der PGA Championship, bevor er in Southern Hills aufgeben musste und kurz darauf die US Open strich, zwei in St. Andrews – das war’s in Sachen Woods 2022, der in der Weltrangliste aktuell auf Platz 1.274 geführt wird. Abgesehen von dem Geplänkel mit Filius Charlie bei der PNC Championship. Und dennoch bestimmte er das Golf-Bewusstsein der Öffentlichkeit wie kein Zweiter – mit dem Platz hatte Rory McIlroy vorlieb zu nehmen, der dafür viel mehr tun musste.
Der Tiger war in allen Analysen vorn, mit denen die PGA Tour die Wirkmacht ihres spielenden Personals eruiert – selbst, wenn es kaum spielt – und strich am Ende 15 Millionen Dollar ein, letztlich eine Prämie für seinen Willen und seine Widerstandskraft. Sowieso: Wer soll ihn denn in Sachen Popularität schlagen?
Beim Masters sogar auf die Uhr genommen
Heute wird Tiger Woods 47. Er blickt zurück auf ein Jahr, das „Golf.com“ als „Lektion in Sachen Stehvermögen“ bezeichnet. Weil’s am Gehvermögen hapert. „Ich kann jeden Schlag spielen, ich kann nur nicht laufen“, attestierte er sich mehr als ein Mal. Was für ein Satz. Der sagt alles. Und so humpelte Woods durch 2022. Mit einem schiefen Gangbild, das jedem Ergotherapeuten die Haare zu Berge stehen lässt. Derart langsam, dass er beim Masters am siebten Loch gar auf die Uhr genommen wurde, wie sein Sonntags-Flightpartner Jon Rahm verraten hat: „Wir haben den Offiziellen alle etwas ungläubig angeschaut“, erzählte der Spanier bei der Hero World Challenge. „So in der Art: ,Hey, lass gut sein, er kann halt nicht schneller’.“ Tiger Woods und Slow Play – schier unvorstellbar.
Adieu auf der Swilcan Bridge wäre ein Aufgeben gewesen
Colin Montgomerie, der Altmeister aus Schottland, hat sich ohnehin gewundert, dass Woods dann bei der Open am 15. Juli auf der Swilcan Bridge nicht stehen geblieben und damit zurückgetreten ist: „Das wäre der ideale Moment für einen grandiosen Abgang gewesen.“ Wer erinnert sich nicht an diese Szene, an das Atemanhalten, als Mitspieler McIlroy seinem Freund und Geschäftspartner in der später verkündeten TMRW Sports respektvoll die Bühne überließ und alle Welt gebannt auf das eigentlich Erwartbare lauerte. Freilich, Tiger lüftete die Kappe, winkte und hinkte weiter – ohne inne zu halten und Adieu zu sagen. So will einer wie er nicht aufhören. Für jemanden mit seinem Naturell wäre das eher ein Aufgeben.
Tiger Woods möchte als Sieger gehen
Warum auch. Er kann ja immer noch jeden Schlag. Die plantare Fasziitis, die von Überbelastung verursachte Entzündung in der rechten Fußsohle, ist irgendwann auskuriert. Die Zeit heilt, stete Arbeit hilft, die Hoffnung stirbt eh zuletzt. Dafür schindet sich Woods weiterhin, jeden Tag: „Man muss sich alles erarbeiten, immer aufs Neue, kriegt nichts geschenkt.“ Sein Ethos ist ikonisch.
Der Tiger will als Sieger gehen. „Ich möchte noch mal gewinnen“, hat er gesagt. „Nicht irgendein Turnier, sondern ein ganz großes Ding.“ Sprich: ein Major. Am liebsten die Open 2030, wieder auf dem Old Course. Damit gleichzeitig der 83. Sieg auf der PGA Tour und der alleinige Rekord, den er sich noch mit Sam Snead teilen muss.
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Wer hatte den Masters-Triumph 2019 auf dem Zettel?
Es wäre surreal. Unrealistisch ist es nicht. Oder hatte jemand den Masters-Triumph 2019 auf dem Zettel? Und Phil Mickelson war 2021 bei der PGA Championship auf Kiawah Island bereits 50. Gut, „Lefty“ kann laufen, Tiger Woods wird für den Rest seines Lebens lahmen. Aber sein Rücken war ebenfalls schon mal „irreparabel“ kaputt, damals der vermeintliche Tiefpunkt seiner Karriere, die an Verletzungen fast so reich ist wie an Erfolgen. Und doch gewann der bereits Abgeschriebene 2018 die Tour Championship, holte sich ein halbes Jahr später sein fünftes Green Jacket.
Das Unvermeidliche im Blick
„Man sollte Tiger niemals abschreiben“, lautet das Mantra von Woods-Intimus Notah Begay III, bei dessen Junioren-Events sich Charlie Woods den Schliff für künftige Großtaten holt. Und Justin Thomas, der „kleine Bruder“, sagte schon im Jahr des schweren Autounfalls, der aus Woods’ rechtem Unterschenkel einen Trümmerhaufen gemacht hat: „Wenn es einer schaffen kann, dann er.“ Beides gilt bis heute.
Andererseits blickt Woods der Unvermeidlichkeit längst ins Auge: „Mir ist sehr bewusst, dass ich nicht mehr lange ein aktiver Spieler sein werde“ wurde er vor kurzem an dieser Stelle zitiert. Samt Darstellung, was er in diesem Jahr geleistet hat, nicht zuletzt hinter den Kulissen.
„Greg muss weg!“
Weil er mit seinem Paladin McIlroy die PGA Tour vor sich her treibt. Weil er sich aktiv dem Widerstand gegen die LIV-Liga von Saudi-Arabiens Geld-Gnaden angeschlossen hat und offen die Demission des Impresarios fordert: „Greg [Norman] muss weg!“ Weil er qua Person und Charisma die tourtreuen Topstars hinter sich (ver-) eint wie weiland Arnold Palmer, der seinen Kollegen stets Kompass war und dessen negativem Plazet alle folgten, als Norman in den 1990er-Jahren erstmals zur Attacke gegen das Golf-Establishment blies („Wenn es für Arnie nicht gut ist, ist es für uns gleichfalls nicht gut“).
Staatstragende Reden
Weil er mit dem geplanten Stadion-Spektakel der Tomorrow Golf League (TGL) das Spiel in eine neue Dimension führt. Weil er „staatstragende Reden“ hält, beginnend mit seiner Ansprache anlässlich der Aufnahme in die Hall of Fame, gefolgt von der „Bergpredigt“ bei der Hero World Challenge, die eigentlich bloß als Pressekonferenz des Gastgebers im Programm stand, indes zur „State of the Game“-Standpauke im Stil eines Arnold Palmer geriet.
Elder Statesman und ergrauende Eminenz
Weil er mit alldem mittlerweile zum Elder Statesman geworden ist, zum „Shadow Commissioner“ der PGA Tour, zur ergrauenden Eminenz hinter den Machtstrukturen des Golfbetriebs – Richelieu und Mazarin, die Kardinäle hinter Frankreichs Barock-Königen Louis XIII und Louis Quatorze lassen grüßen. Weil ihn seine Katharsis aus Krisen und Krankheiten endgültig zur Lichtgestalt reifen ließ, zum würdigen Nachfolger von „King“ Palmer. Rory McIlroy beschreibt Woods’ Präsenz und Strahlkraft so: „Immer, wenn wir alle in einem Raum zusammen kommen, ist ganz offensichtlich, dass es einen Alpha-Typen gibt – und der bin nicht ich.“ Vermutlich betrifft das selbst Treffen mit PGA-Tour-„Commish“ Jay Monahan und anderen Vertretern der Nomenklatura.
Nie war er so wertvoll wie heute
Monahans Vorgänger Tim Finchem hat mal gesagt „Niemand ist größer als das Spiel selbst“, als der Quotengarant „mit Rücken“ ausfiel und ein Vakuum zu entstehen schien, nirgendwo ein Nachfolger sichtbar war, der nun Rory McIlroy zu werden verspricht. Finchem mag grundsätzlich Recht haben, natürlich würde ohne den Superstar die Golfwelt nicht untergehen. Doch Woods hat seine ureigene Größe. Solange er da ist, dreht sich alles um ihn, steht und fällt alles mit ihm, ist er DER Faktor, der den Unterschied macht, der fasziniert, emotionalisiert, polarisiert, inspiriert. Und er war nie so wertvoll wie in diesem turbulenten, disruptivem Jahr. Happy Birthday, Tiger Woods.
Schöne Geburtstagsgabe 🙂