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Der Zwölf-Loch-Parcours von 1860: Prestwick feiert 150. Open auf seine Weise

18. Okt. 2022 von Michael F. Basche in Prestwick, Schottland

Der Prestwick Golf Club: Für zwei Wochen im Oktober ein besonders außergewöhnlicher Anachronismus. (Foto: Mark Alexander für Prestwick Golf Club)

Der Prestwick Golf Club: Für zwei Wochen im Oktober ein besonders außergewöhnlicher Anachronismus. (Foto: Mark Alexander für Prestwick Golf Club)

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Eigentlich liegt das bedeutendste Sportereignis jenes Jahres exakt sechs Monate zurück: Auf einem Feld nahe dem südenglischen Farnborough liefern sich der einheimische Herausforderer Tom Sayers und US-Champion John Heenan im April 1860 einen 42 Runden oder zwei Stunden und 27 Minuten währenden blutigen Schlagabtausch, der als erster Weltmeisterschafts-Boxkampf in die Geschichte eingehen wird.

Ein Boxkampf – und sonst so?

Unter den Zuschauern der Prügelei sind der 18-jährige Prinz von Wales und spätere König Edward VII., Englands Premierminister Henry John Temple sowie der Schriftsteller Charles Dickens, was beinahe einen ebenso handfesten Skandal herauf beschwört. Denn das Gefecht wird ohne Handschuhe geführt und ist daher illegal. Die Polizei rückt an, um dem Treiben ein Ende zu bereiten; die Promis müssen ebenso Reißaus nehmen wie das sonstige Publikum und nicht zuletzt die Kombattanten. Ihre Rauferei wird später als Unentschieden gewertet.

(Foto: Mark Alexander für Prestwick Golf Club)

Und sonst so? Nicht viel los in Britanniens Sport im Herbst vor 162 Jahren. Wenn da nicht noch dieses Golf-Ereignis in Prestwick anstünde. Ausgerechnet auf dem Zwölf-Loch-Parcours, den der in St. Andrews als Nestbeschmutzer gefeuerte Tom Morris Sen. neun Jahre zuvor für die 57 Herren arrangiert hat, die im örtlichen Red Lion Inn eine Golf-Society gegründet haben, und die er seither als „Keeper of the Green, Ball and Club Maker“ pflegt. Sein Lehrmeister Allan Robertson hat ihn 1851 vom Hof gejagt, weil Azubi Morris nicht Robertsons kostspielige und aufwändig herzustellende „Featheries“, sondern die neumodischen und günstigeren Guttapercha-Bälle über den Old Course prügelte.

Ein Wettspiel „mehr zum eigenen Vergnügen“

Doch nun ist Robertson seit gut 13 Monaten tot. Und die Position des besten Spielers seiner Zeit verwaist. Also schreibt Prestwicks Herrenrunde ein Turnier aus und diverse Clubs an, ihre „besten und angesehensten Caddies“ zu nominieren. „Mehr zum eigenen Vergnügen“, verdeutlicht Ken Goodwin, der aktuell das Amt des Club-Sekretärs bekleidet. „Sie waren einfach neugierig, den neuen Branchenprimus durch ein eigenes Event zu ermitteln.“ Und sie sahen, das sollte nicht verschwiegen werden, eine neue Gelegenheit für ihre Zockereien. Denn genau hier findet sich der Wortsinn von Begriffen wie „Wett-Spiel und „Wett-Bewerb“.

(Foto: Mark Alexander für Prestwick Golf Club)

Organisator des Spektakels ist der Morris-Gönner Oberst James Ogilvie Fairlie. Als Mäzen fungiert der sportverrückte Archibald Montgomerie, 13. Earl of Eglinton, der als Wandertrophäe einen Gürtel aus rotem Saffianleder mit mordsmäßiger Schnalle stiftet, für dessen pflichtgemäße Rückgabe im kommenden Jahr der jeweilige Sieger ein Pfand zu hinterlegen hat.

Rivale Park bezwingt Favorit Morris

Am 17. Oktober 1860, einem Mittwoch, gewinnt allerdings nicht Lokalmatador Morris, sondern dessen Erzrivale Willie Park Sen. aus Musselburgh an der Ostküste, der nach zwei Vormittags- und einer Nachmittagsrunde sowie 55, 59 und 60 Schlägen um zwei Hiebe besser ist als Favorit Morris und seither als erster Champion Golfer of the Year in den Golf-Annalen geführt wird. Das gesamte Turnier dauerte mit viereinhalb Stunden übrigens knapp doppelt so lange wie der eingangs aufgeführt Faustkampf.

Was damals als Partie acht borstiger Burschen begann, die ihr Geld als Schlägermacher und -träger, als Greenkeeper und Duell-Partner der wettlustigen Gentlemen verdienten, mithin die ersten Berufsspieler waren, ist heute das älteste Major und eine Ikone der Sportwelt: The Open Championship.

 

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Prestwick atmet Golf aus jeder Fuge

Auf dem Old Course zu St. Andrews wurde in diesem Jahr die 150. Auflage inszeniert, im „Home of Golf“ machten die Lordsiegelbewahrer des Spiels ein Menge Aufhebens, mit Show-Matches auf ausgewählten Löchern des Old Course, einem Champions-Dinner und allerhand Lametta mehr. In Prestwick freilich begeht man das Jubiläum auf ureigene und sehr angemessene Weise.

Aus Anlass der 150. Open hat der Club südlich von Dow’s Burn nämlich die ursprünglichen zwölf Löcher zwischen den Bahngleisen der Ayrshire Coast Line und dem Rand des 15.000-Einwohner-Städtchens auferstehen lassen, das Golf aus jeder Natursteinfuge seines Pflasters und seiner Gebäudefundamente atmet.

So, wie sie bei der Open 1860 gespielt wurden; so, wie Old Tom Morris das Geläuf zuvor konzipiert hatte, als er mit einem Handvoll Federn umher wanderte und Flächen für Grüns markierte – ohne Rücksicht auf Dünen oder Geländeverwerfungen, die möglicherweise dazwischen liegen. „Er vertrat die Ansicht, es sei Sache des Spielers, damit irgendwie klar zu kommen“, erklärt Club-Sekretär Goodwin. „Entweder man spielt drüber weg oder drumherum.“

Schrullig, urig und ursprünglich

Daran hat sich bis heute nichts geändert, trotz der Erweiterung auf 18 Loch von 1882, an der Morris ohnehin maßgeblich beteiligt war, wiewohl längst wieder in St. Andrews und „Custodian of the Links“ auf dem Old Course. Der Platz ist urig und ursprünglich, ja geradezu schrullig. Er wirkt, als erscheine der „Godfather of Golf“ jeden Moment auf einem der Buckel oder einer der Wellen und Kanten, die so viele blinde Abschläge erfordern.

 

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Nach Vorväter Sitte wahlweise mit Hickory-Schlägern

Erst recht gilt das nun in diesen Tagen: Für zwei Wochen spüren Mitglieder, VIPs, Medienmenschen und an den beiden Schlusstagen gleichermaßen sonstige Golf-Puristen den alten Zeiten nach, erleben auf den Links von Prestwick einen außergewöhnlichen Anachronismus. Nach Vorväter Sitte wahlweise sogar mit Hickory-Schlägern, die der Club zur Verfügung stellt. Selbst die Korbgeflechte an den Spitzen der Pins hat man nachgebaut, die – den Weidenkörben der Fischer nachempfunden und deutlich windbeständiger als Flaggen – bis Anfang des 20. Jahrhundert benutzt wurden und von Merion in den USA bis heute kopiert werden.

 

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Scorekarten mit  „Bogey“ statt „Par“ und aufs Inch genau

Doch erstmal geht’s zur Stärkung ins Clubhaus. Mit Sakko und Krawatte selbstverständlich. Den Begrüßungsdrink gibt es aus Silberhumpen. Allein das Lunch-Ritual ist eine Geschichte für sich … Anderes Mal – gerade hat Ken Goodwin  für ein paar einleitende Worte an den Becher geklopft. Anschließend werden die Scorekarten fürs 12-Loch-Layout verteilt. Mit „Bogey“ statt „Par“. Wie es seinerzeit üblich war. Mit Distanzangaben in Yards, Fuß sowie aufs Inch genau.

(Foto: Mark Alexander)

Die Prestwick-Runde von 1860 beginnt überdies nicht mit der gefürchteten „Railway“-Eins entlang der rechter Hand verlaufenden Bahnböschung, die schon Tausende aufgeregte Slices verschluckt hat. Den Anfang macht vielmehr „Back of Cardinals“, benannt nach dem monströsen Bunker am Ende des Fairways, das in seiner alten Version noch vor dem heutigen Parkplatz liegt – wo sich normalerweise das 16. Grün befindet –, und mit für damalige Verhältnisse schier unfassbaren 578 Yards direkt das schwierigste Loch ist. Young Tom Morris hat dieses Viech 1871 bei seinem dritten Open-Sieg in Serie trotzdem mit lediglich drei Schlägen bezwungen; am Ende gehörte der Champions-Belt endgültig ihm.

„Alps“ als komplette erhaltene Bahn von damals

Insgesamt sechs der originären zwölf Grüns haben es durch die Zeit geschafft. Natürlich nicht unverändert, aber sie befinden sich nach wie vor dort, wo Morris Senior einst seine Federkiele in den Boden bohrte. Andere liegen wenigstens innerhalb der heutigen Spielbereiche, waren daher problemlos zu reanimieren. Mit „Alps“ ist gar eine Bahn komplett erhalten geblieben. Samt ihrem berühmten „Sahara“-Bunker und der extremen Falte auf dem Grün. Absolut unverändert, bloß ein bisschen manikürter. Die eigentliche 17 ist nun die Zwei.

(Foto: Mark Alexander)

 

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Lediglich für „Green Hollow“, die damalige Sieben, musste ein gänzlich neues Grün an die Stelle gebaut werden, wo seit über 100 Jahren dichtes Rough wuchert. Und die gut 166 Yards lange Acht namens „Station“ beispielsweise, auf der Young Tom 1869 das erste Hole-in-one der Major-Historie erzielte und die heute übers 15. Fairway sowie den dort platzierten Bunker gespielt wird, ist ebenfalls im 18-Loch-Routing nicht mehr enthalten. Das gilt übrigens für die gesamte „zweite Sechs“ des alten Geläufs.

„Ein Platz, der nur in den Geschichtsbüchern existiert

So was raubt dann sogar Prestwick-Routiniers den Atem. „Ich habe die ,modernen‘ 18 Loch schon etliche Male gespielt, aber dieser Kurs haut mich um, schwärmt beispielsweise Jamie Darling als einer der Auserwählten. Der Schotte ist Mitbegründer des Reise- und Promotionportals Scotland Where Golf Began und bringt seine Liebe und Leidenschaft für „Golf as it was meant“ als Mitherausgeber in das bildstarke Storytelling-Magazin „The Links Diary“ und in die gerade gegründete „1457 Society“ ein. „Das Routing war verrückt. Löcher kreuzen sich viele Male, aber jedes Loch hatte seinen eigenen einzigartigen Charme“, sagt Darling. Überhaupt: „Einen Platz zu spielen, der eigentlich ausschließlich in den Geschichtsbüchern existiert – was für eine unglaubliche, unvergleichliche Erfahrung!

 

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Zuwenig Platz für zu viele Zuschauer

24 Mal hat Prestwick die Open ausgerichtet, bevor mit der Ausgabe von 1925 Schluss war, weil die wachsenden Zuschauermassen auf dem engen Gelände nicht mehr ohne Gefahr für Leib und Leben unterzubringen waren. Ein Nachgeschmack lässt sich noch jetzt verspüren. Es muss nämlich allein schon auf den Fairways gefährlich zugegangen sein: Vor dem Abschlag von „Tunnel White“, der Sechs, die sich die Puttfläche mit „Tunnel Red“, der Drei, teilt, überlappen sich die Spielbereiche der Bahnen Fünf, Eins und Zwölf.

(Foto: Mark Alexander)

Kreuz und quer in der „Todeszone“

Mehr noch: Ein paar Meter weiter kreuzt die Elf und dann kommt es mitten auf dem Fairway zum einem förmlichen Knotenpunkt mit den Löchern Zehn, Zwei und Vier. Prestwicks Mitglieder nennen diesen Bereich die „Todeszone“. Old Tom Morris war es „dunnemals“ schnuppe, der Club regelt es heuer mit roten und grünen Lichtzeichen für Stopp und Go sowie reger Kommunikation über Funkgeräte – um die enthusiasmierten, manchmal fast überdrehten Spieler zu leiten, die während dieser zwei Wochen in Prestwick einen ganz besonderen Golf-Traum leben dürfen.

(Foto: Mark Alexander für Prestwick Golf Club)

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