Die „Young Guns“ übernehmen das Kommando: Vor sechs Wochen gewann der 23-jährige Collin Morikawa sein PGA-Championship-Debüt, heute strebt der zwei Jahre jüngere Matthew Wolff das Gleiche bei der US Open an. Und pikanterweise fällt der Finaltag dieser 120. „Offenen Amerikanischen“ ausgerechnet auf jenen 20. September, an dem vor 107 Jahren der 20-jährige Major-Rookie Francis Ouimet mithilfe seines legendären Caddies Eddie Lowery in The County Club von Brookline nahe Boston die aus England angereisten Hochkaräter Harry Vardon und Ted Ray in die Knie zwang und damit ein besonderes Kapitel Golfgeschichte schrieb. Auch Wolff spielt heuer in Winged Foot bei seinem „US-Open-Debütantenball“ und zweiten Major seiner Karriere überhaupt wie ein Alter auf, lässt sich weder von großen Namen noch von den Tücken des West Course beeinflussen.
Bei der PGA Championship war der im Juni 2019 ins Profilager gewechselte Kalifornier schon geteilter Vierter, gestern lochte er auf den Front Nine nahezu alles, was sich für ein Birdie anbot (5) und hielt auf der zweiten Schleife sein Spiel bis zum Schlagverlust auf der 16 souverän zusammen, den er freilich ausgerechnet auf der 18 bravourös wieder wettmachte. „Das war heute der größte Spaß, den ich vermutlich jemals auf einem Golfplatz hatte. Ich habe mein Spiel gefunden und glaube, dass es gut genug ist, hier zu gewinnen“, lautet die anschließende Ansage des Twens mit dem auffälligen Knicks im eigentümlichen Schwung. Nerven scheint er jedenfalls kaum zu haben; er ist den Druck besonderer Turniere auch aus College-Zeiten gewohnt, war während seiner Zeit an der Oklahoma State University NCAA-Champion und hat immerhin auf der PGA Tour bereits die 3M Championship gewonnen, kaum dass er Golf zum Beruf gemacht hatte.
Noch ein bisschen Statistik: Mit 21 Jahren, fünf Monaten und 5 Tagen ist Wolff der jüngste Spitzenreiter einer US Open seit Jim Simons 1971. Bei einem Erfolg wäre er der jüngste Majorsieger seit Tiger Woods‘ Masters-Triumph 1997 und der jüngste US-Open-Champion seit Bobby Jones 1923. Übrigens wurde das Turnier bislang auch erst einmal im September ausgetragen – bei Ouimets Meisterstück 1913. Wie Jim Simons war der allerdings Amateur: Die dafür vorgesehene Auszeichnung hat der mit +14 auf T59 rangierende John Pak (21) aus Florida schon sicher, er ist der einzige Nicht-Profi im verbliebenen Feld.
DeChambeau: „Brauchst ,Momentum‘ für eine US Open“
Resilienz: „BCD“ schien weg vom Fenster, nach zwei Bogeys in Serie zum Auftakt des „Moving Day“ sah es mau aus für die Major-Ambitionen von Bryson DeChambeau. Doch der Kraftmeier kämpfte sich zurück, ließ ein Birdie auf der 7 sowie zwei Schlaggewinne auf Loch 16 sowie 17 folgen, während Flightpartner Patrick Reed nach einigem Auf und Ab auf der Back Nine kollabierte und mit insgesamt 7 über Par auf Rang T11 abstürzte. „Bryson hat seine Bälle bis zum Mond geschossen, und ich meine unter die Bäume“, resümierte der Master-Sieger von 2018.
Und wäre das abschließende Bogey nicht gewesen – DeChambeau würde heute im Gleichschritt mit Matt Wolff das Finale angehen. Ohnehin bleibt er der einzige Spieler bei diesem Major, der keine Runde über Par ins Clubhaus brachte. Nach der gestrigen 70 analysierte der 27-jährige Texaner gewohnt weit ausholend und manchmal kryptisch seine Tages-Vorstellung: „Du brauchst ,Momentum‘, um bei einer US Open gut zu spielen, und das hatte ich heute.“ Und: „Meine Wedges waren gestern nicht gut, ich musste die Schlaglänge neu kalibrieren, weil ich immer knapp zehn Meter zu weit geschlagen habe.“ Sprach‘s und machte sich auf den Weg zur Driving Range, wo er bis in die finstere und kalte Nacht hinein Driver und Hölzer ins schwarze Nirgendwo drosch – im kurzärmeligen Hemd seiner Turnierrunde, während Caddie, Trainer und Manager dick eingemummelt und dennoch bibbernd daneben standen.
Er ist schon sehr speziell, dieser Bryson DeChambeau, und lebt in seiner eigenen Golf-Welt. Heute geht er die Aufgabe US Open von seiner bisher besten 54-Loch-Platzierung bei einem Major an – mal sehen, was der „Mad Scientist“ draus macht.
Die „Whack-a-Mole“ des Danny Lee
Grün-Spektakel in Winged Foot, die Dritte: Nach dem absurden Putt von Zach Johnson am Donnerstag und dem verrückten Chip von Hideki Matsuyama am Freitag war es gestern allerdings ein Drama, das Danny Lee mit einem Sechs-Putt auf dem 18. Grün produzierte. Ja, richtig gelesen: Sechs-Putt. Erst verschob der 30-Jährige aus 1,2 Metern zum Par – die Statistik weist bei PGA-Tour-Pros eine Trefferquote von 91,4 Prozent aus –, dann verpatzte er den Rückputt aus 1,7 Metern und so weiter und so sofort – man will es gar nicht im Detail aufzählen. Ein Marschall, der das Desaster mitansehen musste, sprach von einem „Whack-a-Mole“, einer Kirmesattraktion ähnlich dem „Hau-den-Lukas“, womit umgangssprachlich indes eine endlos zu wiederholende, völlig fruchtlose Tätigkeit bezeichnet wird. Jedenfalls notiere Lee am Ende eine 9 für das Par-4-Loch, fiel auf 13 über Par zurück und quittierte kurz darauf die weitere Teilhabe an dieser 120. US Open. Offiziell wegen einer Handgelenksverletzung, es dürfte sich eher um einen schweren mentalen Schaden handeln …
Danny Lee had an adventure on the 18th green...
First putt from 4'
Second putt from 5'7"
Third putt from 5'10"
Fourth putt from 6'11"
Fifth putt from 3'9"
Sixth putt from 7'7"That's a six-putt from four feet to card a quintuple bogey. pic.twitter.com/eKEusdxZhG
— GOLF.com (@GOLF_com) September 19, 2020
Die beruhigende Wirkung von Nikotin
Sedativ: Man sagt ja, dass eine Zigarette durchaus auch beruhigende oder zumindest ablenkende Wirkung haben soll. Jedenfalls wird dem Nikotin eine dämpfende Wirkung bei ängstlichen, nervösen Stimmungen zugeschrieben. Und Winged Foot kann einen wahrlich nervös machen, sein Rough und sein Grüns gar sind durchaus furchteinflößend. Da muss selbst der Caddie schon mal einen tiefen Zug an der „Ziggi“ nehmen – wie hier Abraham Ancers „Bag Man“ Dale Vallely:
Ian Poulter schäumt über US Open
„Wutbürger“: Ian Poulter mag die US Open nicht. Vor zwei Jahren zertrümmerte der Engländer vor lauter Frust die Tür seines Spinds im Clubhaus von Shinnecock Hills („Ich bin wohl ausgerutscht und gegen die Tür gestoßen“) – deren Reparatur er dieser Tage endlich bezahlt hat –, und auch in Winged Foot konnte der Ryder-Cup-„Postman“ nicht liefern, mit zwölf Schlägen über Par war am Freitag vorzeitig Schluss. Anschließend ließ „Poults“ via soziale Medien seinen Furor raus: „Egal, was sie euch erzählen – US Opens gehen einem einfach nur auf den Sack. Man hat das Gefühl, alle 20 Minuten in die ,Kronjuwelen‘ getreten werden. Und wenn du dich gerade erholt hast, kriegst du den nächsten Tritt mitten rein. US Opens sind das pure Elend.“ Tja, Winged Foot ist halt doch was anderes, als Bälle durch die offenen Scheiben eines Ferrari zu schießen …
When you've been a naughty boy...
2 years ago at Shinnecock Hills... I must have tripped and fallen against my locker causing it to fall apart... ???
Today I repaid Robbie for my mishap. @usopengolf #sorrynotsorry #whoops #payyourdebts #greensweretoofirm #angrypoults pic.twitter.com/HTIQ4RlUIW— Ian Poulter (@IanJamesPoulter) September 15, 2020
Die Entstehung des 18. Lochs von Winged Foot
Teil 2: Der Winged Foot Golf Club hat die Entstehung und Überarbeitung des West Course dokumentiert. Am Schlusstag dieser 120. US Open gibt‘s – naheliegend – auch die letzte Folge der dreiteiligen Dokumentation, die den Bogen spannt von Tillinghast bis Hanse, von 1923 bis 2015/2016. Diesmal geht es vor allem um das phänomenale 18. Loch mit der unvergleichlichen Kulisse des Grüns vor dem ikonischen Clubhaus. Prädikat sehenswert:
Cabrera Bello „renoviert“ sein Bag
Alles neu: Vor dem gestrigen „Moving Day“ sah es so aus, als könne Rafael Cabrera Bello bei dieser 120. US Open eine imposante Außenseiterrolle spielen, der Spanier ging vom geteilten dritten Platz aus in den Samstag – und bei ihm schien ein in dieser Form und so unmittelbar vor einem Major ebenso seltener wie bemerkenswerter „Move“ Früchte zu tragen. „Bello“ hatte nämlich am Dienstag bis auf den Putter das komplettes Titleist-Arsenal ausgetauscht, mit dem er tags zuvor angereist war. Schon seit geraumer Zeit hatte die Spezialisten seines Ausrüsters den 36-Jährigen zu einem Wechsel zu überreden versucht, da sein auf die oft windigen und harten Plätze in Europa ausgerichteter Ballflug zu flach und für die Konfiguration amerikanischer Golfplätze ungeeignet schien, da dort das „Air Game“ viel vorteilhafter ist.
Dank der zusätzlichen Überzeugungskraft von Schwungtrainer Sean Hogan packte sich Cabrera Bello also Titleists „U500“-Schläger als Eisen 3 und 4 ins Bag, dazu die 620 MB-Modelle für alle übrigen Eisen, ließ sich überall weichere Schäfte montieren und wechselte auch bei den Hölzern auf die TS 3 und -5-Varianten sowie beim Driver vom TS3 zum neuen TS3i. Eine „Komplettrenovierung“ des Bags hatten sich die Titleist-Leute und Coach Hogan zwar so nicht vorgestellt, aber „Bello“ hatte gute Gründe: „Ich spiele nicht gut, also kann jeder Wechsel kaum schaden, vielleicht aber helfen.“ Zwei Tage lang bestätigte sich das mit Runden von 68 und 70 Schlägen, gestern freilich fing sich der Spanier während eines birdielosen Umlaufs zwei Bogeys und ein Doppel-Bogey auf der 11 ein, die ihn auf den geteilten achten Platz (+2) zurück warfen.
Ballspirale statt Tee Times
Konservativ: Winged Foot ist alte Schule, vom First des ikonischen Clubhauses bis zur Etikette (keine Hüte oder Kappen im Inneren etc.) und zum letzten Grashalm auf dem Platz. Da wundert es nicht, dass es auf der „Walking-only“-Anlage keine Tee Times gibt. Mit oder ohne Corona: Auf der Abschlagsmarkierung des Eröffnungs-Tees platzierte Bälle bestimmen die Reihenfolge der Spielgruppen – so, wie es bei uns vor Corona auch noch vereinzelt Ballspiralen gab. Nur mit einem Unterschied: Es darf solange kein Ball platziert werden, bis nicht alle Flightpartner auf der Anlage und auch „ready to go“ sind. Die Golfqualitäten der Mitglieder – 189 haben ein Handicap von unter 5 – garantieren, dass es kaum längere Wartezeiten gibt. Ohnehin gilt in Winged Foot die Maxime, dass keine Runde länger als vier Stunden dauern darf.
Mickelson mit Kuschelkissen
Zum Schluss: Winged Foot fordert alle Sinne und alle Kräfte – kein Wunder, dass der West Course sich erschöpfend bemerkbar macht. Besonders, wenn der Ausflug in den US-Bundesstaat New York auch noch wenig beflügelnde Erfolgserlebnisse bringt. Und so grüßt von der Couch – Phil Mickelson, der mit Kaffee und Kuschelkissen die Erkenntnis verdauen muss, dass es mit einer US Open und dem Karriere-Grand-Slam in diesem Leben wohl nichts mehr wird: