Am vergangenen Sonntag war „Mental Health Day“, der Welttag für psychische Gesundheit. Am Montag sprach Caroline Masson an dieser Stelle über ihre Erfahrungen mit mentaler Erschöpfung. Überhaupt ist das Thema allgegenwärtig, seitdem Tennisstar Naomi Ōsaka und Turn-Heroine Simone Biles sich im Olympia-Sommer als mündige und mutige Athleten öffentlich zu ihren seelischen Überforderungen bekannt haben: Burnout und Depression sind die Kehrseiten des Lebens im Rampenlicht – und nicht nur dort –, sie lauern permanent hinter Triumph und Tragik, hinter dem schönen Schein des Starruhms.
Weichei-Klischee und Klapsmühlen-Stigma
Jahrzehntelang war das Thema tabu, so wie der Burnout gesamtgesellschaftlich wahlweise als Überperformer- oder als Weichei-Klischee abgetan und die Depression mit unsäglicher Unkenntnis im Stigma der Klapsmühle verortet wurden. Was wunder, bestätigen doch sogar Fachleute, dass depressive Störungen schwierig zu erkennen und mühsam zu verstehen sind. Unvergessen ist der Fußball-Torhüter Robert Enke, den seine unbewältigte Depression 2009 in den Suizid trieb. Heute sind Depressionen als komplexe Krankheitsbilder definiert. Bloß, es existiert kein einheitlicher Krankheitsverlauf. Innere Leere darf getrost als Kernaspekt gelten.
„Je mehr wir darüber reden, desto mehr wird es helfen“
Umso mehr hilft es, wenn die Betroffenen offen über ihren Leidensdruck sprechen. „Es geht nur darum zu akzeptieren, dass es eine reale Sache ist und dass es jeden treffen kann – obwohl wir alle hier draußen mental sehr stark sind“, hat Masson im Interview nach dem Founders Cup der LPGA Tour erklärt: „Entweder man sagt gar nichts und verkriecht sich in seinem kleinen Loch, oder man kann offen darüber reden. Je mehr wir darüber reden können, desto mehr wird es helfen.“
Der Shooting Star mit dem Knicks im Schwung
Viele haben sich verkrochen und tun es noch; einer, der drüber redet, ist Matthew Wolff. Der 22-Jährige wechselte im Juni 2019 ins Profilager, gewann im Juli nach einer Sponsoreneinladung zur 3M Open das erste Turnier auf der PGA Tour und hielt dabei Bryson DeChambeau und Collin Morikawa in Schach, wurde 2020 bei der PGA Championship, seinem ersten Major, auf Anhieb geteilter Vierter und sechs Wochen später bei der US Open Zweiter hinter DeChambeau. Wunderkind Wolff war in aller Munde, der Shooting Star mit dem Knicks im Schwung wurde als Golfsensation gehandelt und gehätschelt.
„Als Mensch nicht durch Ergebnisse definiert“
Er selbst freilich kam mit den Geistern nicht mehr klar, die seine Auftritte gerufen hatten. Der Kalifornier fiel in ein tiefes sportliches Loch: „Ich hatte das Gefühl, noch nie in meinem Leben so schlecht gespielt zu haben. Ich war fünf Monate lang völlig neben der Spur. Dabei wollte ich doch meinen Fans was bieten, ihnen eine gute Show liefern“, erinnert sich Wolff, der nach seiner Disqualifikation beim Masters für zwei Monate abgetaucht war, um sich auf das Leben abseits der Fairways zu fokussieren und einzusehen, „dass ich als Mensch nicht durch meine sportliche Leistung und meine Ergebnisse definiert werde“.
"When I make people happy, that makes me happy.” @matthew_wolff5 on the importance of athletes discussing their mental health.#USOpen pic.twitter.com/sGBeVpi8U6
— Golf Channel (@GolfChannel) June 19, 2021
Vor ein paar Monaten noch habe er mit all dem indes überhaupt nicht umzugehen gewusst. „Heute ist es einfach zu sagen, dass ich überreagiert habe. Damals gab es Tage, an denen ich am liebsten im Bett geblieben wäre und mir die Decke über den Kopf gezogen hätte, statt irgendwem was beweisen zu müssen und es womöglich doch zu vermasseln. Die Angst hatte mich voll erwischt.“
Das Unglück, Leute glücklich machen zu wollen
In seiner Aussage steckt alles, was zur Diagnose Depression gehört. Es ist die Last der Erwartung, die Bürde eines Hoffnungsträgers, der Umgang mit dem Hype und der Druck, die Heerschar erwartungsvoller Anhänger bei Laune zu halten. Zumal in Zeiten sozialer Medien, deren Auswüchse und Auswürfe allzu oft wie Brandbeschleuniger wirken.
Andrew „Beef“ Johnston, der struppige Engländer, hat mal gesagt: „Ich habe versucht, die Leute glücklich zu machen, und bin darüber total unglücklich geworden.“ Ihn hatten der kometenhafte Aufstieg zum publikumsnahen Golfstar und die damit verbundene Aufmerksamkeit gleichsam an den Rand seiner mentalen Belastbarkeit bugsiert. Irgendwann war es halt überhaupt nicht mehr lustig, stets lustig und locker wirken zu wollen.
Zuviel von allem und ein Verrat am Ich
Salopp formuliert ist es ein Zuviel von allem. Und ein Verrat am Ich. Man ist nicht bei sich, ignoriert die eigenen Bedürfnisse, das eigene Wertegefüge. Kurz: „Fremdbestimmung statt Selbstbestimmtheit“, verdeutlicht die Hamburger Präventologin und Mind-Body-Medizin-Therapeutin Andrea S. Klahre. „Entscheidend ist, wie das Gehirn Reize verarbeitet und bewertet, und ob sie als positive Herausforderungen erlebt werden. Das Gegenteil mündet in Überforderung. Wenn die chronisch wird, folgen psychosomatische Erschöpfung und schlimmstenfalls Depression.“
Gesellschaftliche oder berufliche Normen als Verstärker
Depressiv Erkrankte sind in ihrer Gesamtheit zutiefst erschüttert, ohne dass die Ursachen immer erklärbar wären. Im Zusammenspiel von seelischen, sozialen und biologischen Mechanismen werden verschiedene Nervennetzwerke beim Übertragen von Signalen gestört. Gesellschaftliche oder berufliche Normen wirken ebenso als Verstärker wie gelernte Verhaltensmuster, Erfahrungen und Vererbung. Akademischer soll’s hier nicht werden. Stattdessen sei António R. Damásio zitiert, Professor für Neurowissenschaften und Psychologie an der University of Southern California: „Bei der Depression atmet die Seele durch den Körper.“
Lexi Thompson und Sandra Gal
Nicht selten bringen äußere Ereignisse das Fass endgültig zum Überlaufen. Bei Lexi Thompson beispielsweise war es die Krebsdiagnose ihrer Mutter Judy, die das amerikanische Fräuleinwunder in eine tiefe Sinnkrise taumeln und 2018 eine Auszeit zum „Aufladen meiner Batterien“ nehmen ließ. Was Thompson später via Instagram offenbarte, las sich ebenso symptomatisch wie erschütternd:
Auch Sandra Gal kennt den Spagat zwischen Star-Glamour und Selbstfindung, zwischen Poster-Girl und Hochleistungssportlerin. Die 36-Jährige, Gewinnerin der Kia Classic 2011, zweifache Solheim-Cup-Teilnehmerin (2011, 2015) und Olympionikin von Rio 2016, zog seit August 2019 zwei Mal den Stecker, „um mich zu heilen und mein Nervensystem in Ordnung zu bringen“. Noch im Juni erzählte sie der Pressestelle der Ladies European Tour: „Ich muss mir allerdings weiter Zeit geben und Disziplin üben, um mich wieder richtig gesund und im Gleichgewicht zu fühlen.“
Burnout ist Ressourcenmangel
Gleichgewicht: gutes Stichwort. Ebenso: Sich treu bleiben, auf eigene Ressourcen bauen, seelische Widerstandskraft entwickeln – das Phänomen der Resilienz. „Aus meiner Sicht ist Burnout ein Ressourcenmangel. Wobei viele nicht wissen, was Ressourcen sind“, sagt Therapeutin Klahre. „Wesentlich sind hierbei nicht nur externe Ressourcen wie Einkommen, Bildung, berufliche Position oder verlässliche Freunde. Entscheidend sind gleichermaßen die internen Ressourcen: Neugier, Risikofreude, Zielorientiertheit, Selbstvertrauen und, ganz wichtig, Selbstfürsorge.“
Kaum Grenzen zwischen Marke und Mensch
Dazu gehört unabdingbar: Nein sagen zu können, wenn alle Welt an einem zerrt, was von einem will, wenn damit überdies berufsbedingte Verpflichtungen einhergehen. Nicht nur im Sport sind die Grenzen zwischen Marke und Mensch, zwischen Profession und Persönlichkeit vielfach fließend oder gar verschwommen.
Einer, der das auf die harte Tour gelernt hat, ist Rory McIlroy. „Manche Leute müssen kapieren, dass irgendwann Schluss [mit der Allgemeinverfügbarkeit] sein muss, und ich bin froh, dass dank Athleten wie Michael Phelps oder eben Naomi und Simone endlich eine öffentliche Debatte eingesetzt hat und dass über mentale Probleme so normal geredet wird wie über jede andere Sportverletzung.“
McIlroy und sein mentaler Werkzeugkasten
Der Nordire räumt freilich ein, dass er dank seines Alters (32) und seiner Erfahrung mittlerweile „ein paar Instrumente mehr im mentalen Werkzeugkasten“ habe als noch vor einigen Jahren. Er hat sich aus diversen sozialen Medien verabschiedet, liest keine Nachrichten mehr über sich, schaut weniger Golf im Fernsehen: „Im Grunde jedoch geht’s schlichtweg darum, sich ein Umfeld zu schaffen, in dem du dich wohl fühlst.“
„Der einzige Weg wirklich glücklich zu sein ist, …
Übrigens: Matt Wolff mit seinem runderneuerten Selbstwertgefühl kam vergangene Woche bei der Shriners Children’s Open trotz einigem Pech im Verlauf des Turniers als Zweiter hinter Sungjae Im ins Clubhaus und leistete zum Auftakt wahrhaft Ungewöhnliches, als er bei seiner 64er-Runde sämtliche 18 Grüns „in regulation“ traf – was seltener ist als ein Hole-in-one.
„… wenn du zuerst dich liebst“
Anschließend befand der Kalifornier: „Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass ich gut spiele, denn im Moment konzentriere ich mich ausschließlich darauf, mich zu amüsieren und glücklich zu sein.“
Oder wie Lexi Thompson in ihrem Instagram-Post auch schrieb: „Der einzige Weg wirklich glücklich zu sein ist, wenn du zuerst dich liebst.“