Es sind die unerwarteten Geschichten, die den Zauber der Olympischen Spiele ausmachen. Olympioniken und Olympionikinnen, die voller Ehrfurcht vor dem Event und voller Stolz für ihr Land bei diesem Großevent über sich hinauswachsen - die sich in die Herzen der Zuschauer spielen und Momente für die Ewigkeit liefern. Beim olympischen Golfturnier der Damen ereignete sich abseits der schillernden Goldparty von Nelly Korda eine solche Geschichte: Aditi Ashok aus Indien verpasste zwar eine Medaille, gewann aber die Herzen der Golfwelt.
Ashok gegen Korda wie David gegen Goliath
Im Golfkosmos war Aditi Ashok keine gänzlich Unbekannte. Sie trat bereits 2016 bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro an und gewann in den Monaten danach drei Turnier auf der Ladies European Tour. Wenig später spielte sie als erste indische Spielerin überhaupt auf der LPGA Tour und sorgte in dem Land mit 1,3 Milliarde Einwohner für Schlagzeilen. Doch um dort ganz vorne mitzuspielen, fehlt der schmächtigen Ashok die Länge in ihrem Spiel. Sie wirkt ein wenig wie eine Anachronistin, mit einem Spielstil aus vergangenen Jahrzehnten. So war es auch im Finale des olympischen Turniers.
Völlig überraschend lag die 23-Jährige oben im Leaderboards platziert und kämpfte gegen Nelly Korda, Mone Inami und Lydia Ko um die Medaillen. Jeder gönnte der indischen Überraschung einen Platz auf dem Podium, sogar der amerikanische TV-Kommentator fieberte leidenschaftlich mit Ashok mit. Grund dafür war wohl ihre für alle sichtbare Außenseiterrolle. Ungleicher hätte das Duell kaum sein können - wie David gegen Goliath. Regelmäßig flogen die Abschläge von Ashok an die 40 Meter kürzer als die ihrer Konkurrentinnen. Von 60 Starterinnen schlug in diesem Turnier nur eine einzige Olympionikin durchschnittlich kürzer ab als die Inderin. Und trotzdem spielte sie bis zur letzten Bahn um Edelmetall mit.
Doch dort war es ihre fehlende Länge, die sie daran hinderte, sich eine aussichtsreiche Birdiechance zu erspielen. Sie lochte zum Par und verpasste das Playoff um die Silber- und Bronzemedaille zwischen Mone Inami und Lydia Ko um einen Schlag. "Ich habe nichts ausgelassen", sagte Ashok nach dem Turnier. "Ich glaube, ich habe hundert Prozent gegeben, aber ja, der vierte Platz bei einer Olympiade, bei der drei Medaillen vergeben werden, ist schon ein ziemlicher Mist."
Gratulation vom indischen Staatsoberhaupt
Die Begeisterung für ihr eindrucksvolles Turnier wurde in Indien - einem Land, in dem Golf in der breiten Bevölkerung keine großen Stellenwert genießt - von Tag zu Tag größer. Immer mehr Medien berichteten über Ashok, in den sozialen Medien feuerten unzählige Landsleute die 23-Jährige in der Finalrunde an. Über Twitter meldete sich sogar der Präsident Indiens, Ram Nath Kovind, persönlich zu Wort und sprach der Golferin seine Hochachtung aus:
Well played, Aditi Ashok! One more daughter of India makes her mark!
You have taken Indian golfing to new heights by today's historic performance. You have played with immense calm and poise. Congratulations for the impressive display of grit and skills.
— President of India (@rashtrapatibhvn) August 7, 2021
"Gut gespielt, Aditi Ashok! Eine weitere Tochter Indiens macht sich einen Namen! Mit der heutigen historischen Leistung haben Sie den indischen Golfsport in neue Höhen geführt. Sie haben mit großer Ruhe und Gelassenheit gespielt. Herzlichen Glückwunsch zu dieser beeindruckenden Darbietung von Kampfgeist und Können."
Anachronistin im Training und Weltklasse auf den Grüns
Abgesehen von ihrer Schwäche vom Tee, war Ashok in dieser Woche Weltspitze. Sie spielt wahnsinnig präzise aus kurzer Distanz und befreit sich dadurch immer wieder aus schwierigen Lagen. Zudem war sie mit dem Putter die mit Abstand bester Spielerin der Woche. In der Statistik Strokes gained/putting, die berechnet, wie viele Schläge eine Spielerin im Vergleich zum Rest des Feldes in einem Teil des Spiels gewonnen hat, liegt sie bei 13,1 - ein absoluter Ausnahmewert und unerreicht von ihren Konkurrentinnen.
"Ich wusste, dass ich, obwohl ich so ziemlich die kürzeste Frau vom Abschlag war, mit den meisten der Mädchen an der Spitze mithalten kann. Wenn ich vielleicht 15 bis 20 Meter vom Tee zulegen könnte, wäre ich eine ganz andere Spielerin. Das ist positiv und daran werde ich arbeiten", rekapitulierte sie nach dem Turnier. Und wie sie daran arbeiten wird, weist wieder mal darauf hin, wie anachronistisch Aditi Ashok zu den hochprofessionellen anderen Golferinnen wirkt: In einem Interview gegenüber Republic TV sagte sie, dass sie seit fünf Jahren nur noch gelegentlich mit Trainern arbeitet - sie trainiert sich größtenteils selbst.