Wird das heute der größte Tag im sportlichen Leben des Brian Harman? Eine Menge spricht dafür, vor allem einige Zahlen. Zwar hat der Spitzenreiter dieser 151. Open Championship auf seiner blitzsauberen Back Nine ein drittes Birdie und damit den 54-Loch-Rekord von 200 Schlägen und 13 unter Par verpasst, aber: Harman ist der zwölfte Spieler in der Geschichte der Open, der mit fünf oder mehr Schlägen Vorsprung in die Finalrunde geht, neun Mal sprang dabei am Ende auch der Sieg heraus. Nur zweimal wurde eine derart komfortable Führung: verspielt: 1925 von Macdonald Smith und 1999 in Carnoustie von Jean Van deVelde.
Brian Harman's 5-shot lead is the largest through 54 holes at The Open by an American since Tiger Woods in 2000 (6 shots).
— Justin Ray (@JustinRayGolf) July 22, 2023
Auch wenn Royal Liverpools 18 genauso gefährlich ist wie das Schlussloch von „Car-Nastie“ mit dem Barry Burn – Harmans exzellenter Umgang mit den Eisen und vor allem mit dem Putter ergänzen die Statistik. Der 36-Jährige aus Georgia hatte auf seinen bislang 54 Loch 44 Putts aus drei Metern und weniger und hat sie samt und sonders „gestopft“.
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Dazu kommen die Softskills, sprich sein offenbar mehr als ordentliches Nervenkostüm, das ihn auch bei dem etwas zittrigen Start mit einem Bogey zum Auftakt und einem weiteren Schlagverlust auf der Vier gestern nicht im Stich ließ. „Es wäre einfach gewesen, alles laufen und die Sache außer Kontrolle geraten zu lassen“, sagte der zweifache PGA-Tour-Sieger nach der 69er-Runde, mit der er sein Gesamtergebnis auf -12 schraubte. „Aber ich habe mich einfach auf meine Routine verlassen und wusste, dass ich gut schlage, auch wenn ich noch keine brillanten Schläge gemacht hatte. Ich bin wirklich stolz darauf, durchgehalten zu haben.“ Was das wert ist, wird sich heute zeigen. Grau ist bekanntlich alle Theorie und „entscheidend is auf’m Platz!” Und niemals sollte man den Killerinstinkt eines Jon Rahm unterschätzen, der gestern mit seiner Fabelrunde Blut geleckt hat. Aber Kollege Michael Bamberger hat schon recht, wenn er im „Fire Pit Collective“ schreibt: „Brian Harman allein kann diese Open noch verlieren.“
Übrigens: Ein mögliches Play-off führt im Stroke Play über die Löcher 1, 2, 17 und 18; das Gesamtergebnis zählt.
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Young: „Notfalls aggressiv werden und attackieren“
Realistisch: Cameron Young ist dank seines abschließenden Birdie auf der 18 zur 66 noch in die Rolle des direkten Harman-Verfolgers geschlüpft, rechnet sich aber für heute eher minimale Chancen aus. „Man muss abwarten, wie es auf den ersten paar Löchern läuft. Mit der Führung, die er hat, liegt es in der Finalrunde nicht unbedingt an mir.“ Will heißen: Ohne Fehler von Harman ist das Ding gelaufen. „Wenn er so konstant bleibt wie bisher, dann muss ich schon ziemlich aggressiv werden und mächtig attackieren“, bestätigt der 26-jährige Young die Sachlage am Sonntag in Hoylake: „Dann musst du Dinge versuchen, die du normalerweise nicht versuchen würdest, was immense Risiken birgt.“
Homa und der Ryder-Cup-Test
Ein Flight, zwei Welten: Nach 18 Löchern an einem nassen und trüben Samstag im Royal Liverpool Golf Club trennte Max Homa und Rory McIlroy nur ein Schlag und es einten sie etliche unverwandelte Putts aus 4,5 oder gar drei Metern. Doch ihre Stimmung und ihre Perspektive lagen meilenweit auseinander. Während McIlroy mit enttäuschten Gesichtsausdruck zum Übungsgrün eilte und dort bei Mishits Putts genauso frustriert reagierte wie zuvor auf den Links, grinste Homa munter in jedes Mikrofon. Der 32-jährige US-Pro und Weltranglisten-Achte war zufrieden mit sich, seiner Leistung und dem Tag. Er habe eine Entscheidung getroffen und die Runde als mentalen Test für eine mögliche Ryder-Cup-Realität genutzt, erzählte Homa: „Ein Fan hat mich angeschrien: ,Beeil dich, heute schaut dir sowieso niemand zu’ – was ich, ehrlich gesagt, ziemlich gut fand. Rory war eindeutig der Protagonist. Und es war chaotisch: Sobald er geschlagen hatte, liefen die Leute los –ganz egal, ob ich noch dran war. Sollte ich es ins US-Team für Rom schaffen, würde es sich wohl ganz ähnlich anfühlen. Also war das heute eine perfekte Übung, sich davon nicht beeinflussen zu lassen und ganz bei sich zu bleiben.“
Alex Fitzpatrick: Älter, chaotischer – und besser
Bruder-Duell: Alex ist der Jüngere der Fitzpatrick-Brothers und nach Aussage von Matt eher der Chaotischere und auf jeden Fall weniger Analytische der beiden – aber aktuell der Bessere. Der 24-Jährige führt bei seinem Major-Debüt den familieninternen Zweikampf mit zwei Schlägen Vorsprung auf den vier Jahre älteren US-Open-Champion von 2022 an und liegt bei -4 auf dem geteilten neunten Platz.
Open Week!! 🇬🇧 pic.twitter.com/P2YGQmHNbQ
— Matt Fitzpatrick (@MattFitz94) July 18, 2023
Eine Top-Ten-Platzierung würde bedeuten, dass Alex Fitzpatrick 2024 die 152. Open im Royal Troon Golf Club spielen kann, nachdem er sich erst durch einen gelochten Bunkerschlag auf dem letzten Loch der Qualifikation den Startplatz in Hoylake gesichert hatte. Aber für den Pro aus Sheffield gibt es noch ein wichtigeres Ziel: „Es wäre schön, weit oben zu landen. Es wäre schön, gut abzuschneiden, aber es ist mehr eine Sache des Selbstvertrauens. Ich habe für den Rest des Jahres eine Aufgabe zu erledigen, nämlich zu versuchen, von der Challenge Tour wegzukommen. Eine gute Platzierung würde helfen.“
Alex Fitzpatrick is having some Open debut.
A 65 puts him in a great position for tomorrow. pic.twitter.com/GFwJRaBvyK
— The Open (@TheOpen) July 22, 2023
Die 18 ist das Albtraum-Loch
Das Schlimmste kommt zum Schluss: Was haben nicht alle im Vorfeld dieser 151. Open Championship die Gefährlichkeit der neuen Par-3-17 beschworen, dieser Autor eingeschlossen. Doch das wahre Schrecknis von Royal Liverpool ist seit Donnerstag die 18, ein wahrhaft furchteinflößendes Finalloch. Es trägt den Namen „Dun“ (Mahnung), und vielen Spielern wird es genau so ergangen sein, wenn sie auf dem Weg vom 17. Grün zum 18. Abschlag an den beiden Fairway-Bunkern und am internen Aus-Bereich vorbeilaufen. Im Vorfeld des Turniers wurde die Tee-Box nach rechts verlegt und um 45 Meter nach hinten verlegt, so dass die Bahn nun knapp 557 Meter misst. Zuerst gilt es, mit dem Driver alle Hindernisse zu vermeiden, dann führt der zweite Schlag über das Out-if-Bounds auf das tückisch bebunkerte Grün. Vor allem die beiden Sandlöcher auf der linken Seite haben manchen Akteur vor fast unlösbare Aufgaben gestellt.
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Allein am Donnerstag und am Freitag wurden auf der 18 insgesamt 18 Doppelbogeys und neun Mal Schlechteres gespielt. Der Schlagdurchschnitt lag bei 5,015, was im modernen Turniergolf für ein Par-5-Loch eine Menge ist. Kurz: „Dun“ hat das Zeug, aus anständigen Runden gewöhnliche und aus gewöhnlichen Runden Albträume zu machen. Tyrrell Hatton und Justin Thomas können ein Lied davon singen.
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Min-Woo Lee und das besondere Selfie
People’s Player: Min-Woo Lee gehört bei der 151. Open Champion zu den Favoriten des Publikums und die Wortspielerei „Lee wooes the fans“ (Lee umwirbt die Fans“) ist bei den englischsprachigen Medien sehr verbreitet. Der Australier lieferte gestern auf Initiative zweier Zuschauer auch eine besondere Varianten des beliebten Selfie mit einem Star:
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Scheffler und das Fernsehen
Störsender: Was macht eigentlich der Weltranglisten-Erste? Scottie Scheffler hat’s mit Mühe ins Wochenende geschafft, quälte sich auch gestern mit seiner Puttproblemen mehr schlecht als recht über die (72er-)Runde und übte sich anschließend in Humor: „Es braucht wohl am Sonntag. Nachmittag einen Hurrikan, der alle anderen wegfegt, damit ich noch die Hand an die Claret Jug kriege.“ Zu allem Überfluss gab’s bei der ohnehin schwierigen Putterei auch noch ungeahnte Störungen: Ständig quakte der Ton aus den überdimensionalen Fernsehschirmen den Spielern ins Geschäft – ein misslicher Faktor, den auch Max Homa und Adam Scott beklagten. „Das wat total seltsam“, erzählte Scheffler: „Ich stand über meinem Schlag und der Fernseher lief auf voller Lautstärke und mein Putt wurde kommentiert. So eine Ablenkung ist mir noch nie untergekommen. Normalerweise ist es allenfalls Musik, die so laut herüber weht.“
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Apropos Störungen: Nicht unerwähnt bleiben soll, dass die englischen Fans den krakeligen US-„Kollegen“ in Nichts nachstehen, je mehr sich der Tag neigt und der Bierpegel steigt. Spitzenreiter Brian Harman wurde beispielsweise auf dem 18. Fairway von einem blökenden und mit den Armen wedelnden Fan begleitet, dessen Anblick vor allem eine Frage aufwarf: Wo sind eigentlich die Ordner?
Wait..I was told that the UK fans were much classier than the American fans..??
by u/Shank_Aaron92 in golf
Seltene Kröte stoppt Spieler auf der 13
Noch ‚ne Störung: Aber eine der natürlichen und daher absolut akzeptablen Art. Eine Kröte auf dem Grün hielt gestern die Spieler an der Par-3-13 auf, und Liverpools Headgreenkeeper aka Links Manager James Bledge musste gerufen werden, um den Vertreter dieser seltenen Spezies zu entfernen. Da wartet man doch gern mal.
In der Tat steht die Kreuzkröte europaweit unter strengem Naturschutz. Sie bevorzugt als Lebensraum sandiges Terrain und Salzmarschen; an der Seeseite des Kurses in Hoylake wurden eigens Bruttümpel angelegt.
We have a "toad delay" at the 13th hole.
This rare species can only be handled by one specialist, who in this case is Royal Liverpool's Links Manager James Bledge. pic.twitter.com/ye0PKVMFjf
— The Fried Egg (@the_fried_egg) July 22, 2023
Einstimmung auf den Finaltag
Zum Schluss: Nein, eigentlich eher „zum Start“ – eine kleine Einstimmung auf den Sonntag im Royal Liverpool Golf Club, auf den Finaltag der 151. Open Championship, die bereits jetzt einmal mehr bewiesen hat, warum das älteste Major der Welt auch das faszinierendste ist:
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