Natürlich war Damen-Bundestrainer Stephan Morales überglücklich, als endlich feststand, dass Esther Henseleit tatsächlich eine olympische Medaille gewinnen würde. Fast eine Dreiviertelstunde dauerte es noch, nachdem die 25-Jährige ihre 66 (-6) unterschrieben hatte, bis auch die Olympiasiegerin Lydia Ko vom Grün kam und die erste Medaille für eine europäische Golferin bei Olympischen Spielen besiegelt war. Bis dahin telefonierte Morales, schrieb Nachrichten, tigerte auf und ab und versuchte zu begreifen, was sein Schützling Esther Henseleit gerade geleistet hatte. Und das war eine famose Aufholjagd, der ihre Kontrahentinnen um die Silbermedaille nicht genug entgegensetzen konnten.
"Esther hat definitiv geliefert und hat die tiefe Runde gespielt, die es heute brauchte", bilanzierte Morales im Anschluss. "Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich tiefere Ergebnisse der Mitbewerberinnen erwartet hätte. Wenn Du mich gestern gefragt hättest, ob die fünf unter reichen, hätte ich gesagt, 'ich glaube eher nicht'. Umso glücklicher ist man natürlich, dass sie gereicht hat. Die haben hier alle Körner gelassen", sagte der gebürtige Frankfurter über Hannah Green, Miyu Yamashita oder Rose Zhang, die sich eine nach der anderen an Henseleit und dem Albatros Kurs des Le Golf National die Zähne ausbissen. "Deswegen wurde auch nicht so gut gespiegelt wie erwartet, obwohl heute kein Wind war."
"Esther hat das gemacht, was Esther kann"
Auch wenn er prognostiziert hatte, dass eine tiefere Runde nötig sei, glaubte Morales an Henseleits Chance. Unter einer Bedingung: Sie müsste früh in einen Flow kommen: "Esther hat das gemacht, was Esther kann: die Welle reiten. Das wissen wir von früher. Und das hat sich nicht geändert. Auch jetzt nicht, seit sie Profi ist. Sie kann weiter nach vorne gehen und kann weiter um Birdies spielen. Und das hat sie getan. Das hat sie auch noch an der 17 und an der 18 gemacht. Sie blieb mutig. Und das finde ich geil, dass sie das über all die Stadien die sie durchlaufen hat - vom Mädchengolf, über Damengolf, über Golf für die Mannschaft, über Golf auf der Ladies European Tour, über Golf auf der LPGA Tour, bis jetzt auf die olympische Bühne - weiter Gas gibt. Sie kann als Frontfrau vorne weglaufen und bleibt giftig und fokussiert. Und deswegen hat sie verdient eine Medaille geholt heute."
Auch persönlich freute sich Morales für Henseleit, die er seit über zehn Jahren kennt und betreut: "Natürlich freut mich das für sie, so wie es mich für jede freuen würde, die ich seit ihrem 13., 14. Lebensjahr kenne und begleite. Ich weiß, dass es ihr auch besonders viel bedeutet. Ich weiß aber auch, wie hart es damals für sie war, als sie in Tokio nicht mitspielen konnte." Und was bedeutet dieser herausragende Erfolg für den deutschen Golfsport?
Esther Henseleit jubelt mit der Silbermedaille auf dem Treppchen im Le Golf National.
Bundestrainer Morales hofft auf Strahlkraft der Silbermedaille
"Ich hoffe, dass es vor allem für das weibliche Golf etwas bedeutet. Wir brauchen einfach mehr Mädchen, die Golf spielen, die sich begeistern lassen, die jetzt sagen, 'da will ich hin, ich will auf so eine Bühne. Ich will das einmal erleben.' Wir wollen das nicht nur einmal haben und das reicht uns, sondern wir wollen dieses Gefühl, von heute, häufiger haben. Das wollen wir mehr Menschen ermöglichen und das würde ich mir als Bundestrainer wünschen."
Um den Weg dafür zu ebnen, muss es nicht gleich eine Medaille beim ersten olympischen Auftritt sein. Auch daran erinnerte Morales, der auch über die zweite deutsche Teilnehmerin, Alexandra Försterling, die 35. wurde, nur Gutes zu sagen hatte: "Ich kann es nicht häufig genug wiederholen vor eineinhalb Jahren hätte keiner gedacht, dass Alex mal Olympische Spiele spielt. Erst letztes Jahr ist sie Profi geworden, spielt eine sensationelle LET-Saison und gewinnt viermal. Sie kann viel, viel mehr und sie hat das bei diesem Turnier auch gezeigt, als sie in der dritten und in der vierten Runde unter Par gespielt hat. Darüber bin ich total glücklich und ich weiß, dass ihr dieses Turnier auch echt etwas bringen wird. Alles wird sich in Zukunft ein bisschen kleiner anfühlen. Aber positiv kleiner, also es wird weniger Druck sein."
"Jetzt freue ich mich erstmal für Esther"
Die Silbermedaille bestätigt natürlich auch die Arbeit des Bundestrainers und den Weg des Verbandes, der seine Förderung und Entwicklungsplanung durchaus auf Olympia ausgerichtet hat. Zweimal für Deutschland ist in einem Golfturnier bei Olympia nur Caro Masson angetreten (2016 und 2021). Alle anderen Spielerinnen schafften es bisher nur einmal durch die harte Qualifikation. Morales sieht darin etwas Positives und weiß auch, dass selbst eine Silbermedaillengewinnerin nicht für die nächsten Spiele 2028 in Los Angeles gesetzt ist. Im Gegenteil: "Ich kann mir vorstellen, dass in vier Jahren auf einmal zwei ganz andere da stehen, die auch Medaillenchancen haben und das erfreut mich natürlich als Bundestrainer, weil Konkurrenz finde ich sensationell." Doch das war der einzige Gedanke, den Morales an die Zukunft verschwenden wollte. "Jetzt freue ich mich erstmal für Esther."